“Ein Gehirn, das mit vier Händen schrieb”
Ihr neuer Roman Doppelleben hat selbst einen doppeldeutigen Titel: Es geht da ja einerseits um die fast zwillingsgleich lebenden Brüder Jules und Edmond de Goncourt, die alles gemeinsam machten und ein dandyhaftes Bohèmeleben führten – und andererseits um deren Haushälterin Rose, die von den beiden Künstlern kaum beachtet wurde, die aber ein Doppelleben voller tiefer existenzieller Dramen führte, das spannender, ereignisreicher und tragischer war als fast jede Künstlerbiografie. Wie kamen Sie auf diesen Stoff?
Ganz einfach: Durch die Lektüre der Tagebücher der Goncourts, die 2013 zum ersten Mal vollständig auf Deutsch erschienen. Ich habe damals die NZZ darum gebeten, dieses Mammutwerk besprechen zu dürfen. Daraus ergab sich wenig später ein gemeinsamer Auftritt mit Harald Schmidt, der sich genüsslich auf die reichlich vorhandenen pikanten Stellen stürzte, während mir die Rolle des seriösen Berichterstatters zufiel. Nebst all den von den Brüdern akribisch notierten Intimitäten ihrer Freunde, die oft fälschlich als Tratsch bezeichnet werden, fielen mir auf diesen Tausenden von Seiten insbesondere zwei Ereignisse ins Auge: Da war zum einen die Geschichte von Jules, der mit 39 Jahren starb, zum anderen die Geschichte ihrer Magd Rose, die vor den Augen der Brüder ein Doppelleben führte. Vor den beiden, die sich so viel auf ihren unbestechlichen Blick einbildeten und sich hier als absolut blind erwiesen. Diese beiden Erzählungen fügten sich für mich irgendwann zu einem Roman.
Wie erfuhren die Brüder von Roses Doppelleben?
Unmittelbar nach Roses Tod, der ihnen sehr nahe gegangen war, erzählte ihnen eine ehemalige Geliebte, der sich Rose anvertraut hatte, die Wahrheit über ihre Hausangestellte. Sie hatte sie bestohlen und betrogen, um ihren Geliebten zu unterstützen, der unentwegt Geld von ihr forderte, und dem sie völlig ergeben war. Die beiden waren von diesen Neuigkeiten zunächst wie erschlagen, aber es ist typisch für die Goncourts, dass sie damit sehr professionell umgingen: Bald verspürten sie echtes Mitleid und fassten den Plan, ein Buch über Roses Leben zu schreiben, den Roman Germinie Lacerteux. Dieser Roman wurde vom jungen Emile Zola, der ihn in einer Zeitung rezensierte, immer als Geburtshelfer des naturalistischen Romans bezeichnet. Wohl zum ersten Mal wurde eine Frau aus den unteren Schichten, der man eben noch bestenfalls eine Nebenrolle zugeteilt hatte, zur Protagonistin eines ganzen Romans. Es gab Leser, die allein das Ansinnen, über eine solche Person zu schreiben, äusserst unpassend, ja widerwärtig fanden.
War Ihnen denn von Anfang an klar, dass Rose die heimliche Hauptrolle des Romans einnehmen wird?
Dass sie das heimliche Zentrum des Romans sein würde, war mir von Beginn an klar, dass sie schließlich auch räumlich so viel Platz einnehmen würde, war es nicht. Ich fand es besonders reizvoll, aus zwei Quellen schöpfen zu können; zum einen aus dem Tagebuch, in dem einem Rose zunächst gewissermaßen unschuldig und – nach ihrem Tod – als “Delinquentin” entgegentritt; zum anderen aus dem Roman Germinie Lacerteux, in dem ihre “Biographen” Jules und Edmond, die das Handwerk des Recherchierens an Orten betrieben, die sie sonst mieden, eine Interpretation ihres Lebens boten.
Was hat Sie an den Goncourt-Brüdern so fasziniert?
Die Symbiose, die einer lebenslangen, absolut harmonischen Liebesaffäre glich. Es ist nicht bekannt, dass sie sich jemals auch nur über das geringste Detail gestritten hätten. Und ich glaube nicht, dass sie solche Auseinandersetzungen in ihrem Tagebuch unterdrückt hätten, hätte es sie gegeben. Sie waren wie ein Gehirn, das mit vier Händen schrieb, nicht nur das Tagebuch, sondern auch insgesamt ein gutes Dutzend Bücher, darunter sechs Romane; insofern sind sie nicht nur in der Literaturgeschichte so ziemlich einmalig. Umso schlimmer traf Edmond der Tod des jüngeren Bruders Jules. Es fehlte wenig und er hätte aus Verzweiflung seinen Bruder und sich umgebracht. Er hat das übrigens nicht dem Tagebuch, sondern einzig seinem Freund Gustave Flaubert anvertraut.
Von ihrem eingangs erwähnten Tagebuch verfügten die Brüder mit gutem Grund, dass es erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht werden durfte. Es steckt voller gnadenlos scharf beobachteter Details und Boshaftigkeiten über berühmte Zeitgenossen und lässt keinen Skandal und keine Intimität der Pariser Bohème unerwähnt. Inwieweit floss das Tagebuch in Ihren Roman ein?
Gäbe es dieses Tagebuch nicht, hätte ich diesen Roman nicht geschrieben, da mir Bücher, in denen Autoren so tun, als könnten sie mit ausreichend Fantasie in die Gehirne historischer Personen hineinschauen, ohne dafür handfeste Beweise zu haben, im höchsten Maß suspekt sind. Mir standen “Beweise” in Hülle und Fülle zur Verfügung, die mir erlaubten, nach Belieben damit umzugehen. Fast alles, was ich an Szenen und Gedanken in diesen Roman hineingearbeitet habe, ist belegbar. Originalzitate findet man dennoch nur aufgelöst im Ganzen. Ich habe sie mir angeeignet und umgeformt.
Man merkt bei der Lektüre, wie viel Vergnügen es Ihnen bereitet haben muss, tief in das Paris zu Zeiten Napoleons III. einzutauchen. Was macht den Reiz dieser Stadt damals aus?
Dass Paris das Zentrum einer politischen Macht zum einen und die Hauptstadt der Künste zum anderen war, ist einzigartig. Im Vergleich dazu war Berlin ein unbedeutendes Dorf mit ein paar interessanten Salons. Doch wer verkehrte darin, dessen Name uns heute noch etwas bedeutet? Außer Theodor Fontane kommt einem kaum jemand in den Sinn. In Deutschland entstand die große Literatur ja eher in der Provinz. In Paris hingegen lebte jeder, der es zu etwas bringen wollte. Maler wie Manet und Renoir, Komponisten wie Offenbach, Bizet oder Berlioz, Autoren wie Flaubert, Daudet oder Zola – man könnte die Aufzählung fast unendlich fortsetzen. Ich beschreibe natürlich nur einen kleinen, intimen Ausschnitt aus diesem vielfältigen Kosmos, da der Roman ja auf das Leben der Magd Rose und auf die Krankheit und den Tod von Jules fokussiert ist. Das große Ganze, der Angriff der Preußen 1870 und der deutsch-französische Krieg 1870/71 etwa sind zwar präsent, aber doch eher als fernes Grollen – das allerdings nach Jules’ Tod sehr nahe an das Haus heranrückte, in dem Edmond nunmehr allein lebte. Die Beschreibung der Beschießung und Belagerung von Paris und der folgenden Commune gehört zu den Höhepunkten des Tagebuchs und ist in meinen Augen weitaus interessanter als all die Geschichten von Kleinkriegen zwischen befreundeten und verfeindeten Künstlern, die uns heute bestenfalls sagen, dass sich im Umgang zwischen Menschen seither nichts geändert hat.
Mit den Goncourts und Rose stehen historische Persönlichkeiten im Zentrum Ihres Romans. Wie haben Sie sich diesem “echten” Sujet genähert, wie unterschied sich das Schreiben von dem fiktiver Figuren? Und wie nah blieben Sie an den historischen Fakten?
Zunächst musste es etwas an diesen Figuren geben – und das gab es ganz offenkundig –, das mich so fesselte, dass ich sie mir als Protagonisten eines eigenen Werks vorstellen konnte. Von da war der Weg zum Roman nicht weit. Rein “technisch” gesehen besteht der Unterschied zwischen der Behandlung historischer und erfundener Figuren darin, dass man weniger frei im Umgang mit unumstößlichen Fakten ist. Aber man hat die Freiheit der Wahl, welche biographischen Momente man hervorhebt, um daraus “eigene Literatur” zu machen und welche man, aus welchen Gründen auch immer, weglässt. Andererseits geben die Fakten ein gewisses Gerüst vor, an dem man sich festhalten kann, auch wenn man alle möglichen Optionen hat, welchen Aktionen man mehr oder weniger Bedeutung beimessen will. Im übrigens gilt das Motto von Baudelaire, das ich dem Buch vorangestellt habe: “Die Einbildungskraft ist die Königin des Wahren und das Mögliche eine ihrer Provinzen”. Im Möglichen muss das Wahre gut aufgehoben sein.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wenn Sie einen Tag mit den Goncourts tauschen könnten: mit welchen von deren Bekannten würden Sie sich gerne einmal zum Diner oder Tee treffen?
Mit George Sand!
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