Isenheimer Altar
Am Beginn meiner Expedition zu den Widerspenstigen unter den Franzosen und Französinnen ist Colmar mein erster Etappenort. Diese Stadt liegt auf meiner üblichen Route ins Nachbarland. Mein eigentlicher Zielort aber ist die Isenheimer Abtei bei Colmar. Warum Isenheim? Ist man überzeugt von der tragischen Dimension der Menschheitsgeschichte ist es nicht falsch mit der Thematik der großen Schrecken zu beginnen und der Isenheimer Altar ist einer der berufensten Orte dieser Thematik nachzugehen. Auch wenn man auf die gegenwärtig geschehende Geschichte blickt kann man annehmen, dass das Ende der menschlichen Leidensgeschichte noch lange nicht absehbar ist. Wissensgestütztes Ahnen kommender Katastrophen sucht auch heitere Menschen wie mich und gewiss viele andere heim, wenn sie nicht ganz in Un-Sinn versunken sind. Diese Prämissen vorausgesetzt, werde ich mich mit „gegürteten Lenden“ in meinem erstem Heimatland rundum umsehen und mich auf die Suche begeben nach Gründen zu hoffen und Gründen zu handeln.
Die mächtige Isenheimer Abtei wurde im 13. Jahrhundert vom Antoniter-Ordens gegründet. Bereits das sehr weitläufige Areal, die äußere und innere Ausführung und Gestaltung der Bauten hatten der spirituellen Ausstrahlung der im Abendland zu Beginn des XII Jahrhunderts bekannter und wichtiger werdenden Heils- und Heiligenlegende des „Kirchenvaters“ Antonius Rechnung zu tragen. Und kaum verborgen, entsprach und entsprang dieses religiöse Machtzentrum auch dem hierdurch generierbaren Reichtum.
Vor mehr als fünfhundert Jahren erging an den Maler Matthias Grünewald der Auftrag der Abtei, ein großes Bildwerk zum höheren Ruhme des Heiligen Antonius zu erstellen. Er vollendete das Werk gegen 1510. Es entstand der berühmte in drei Klappebenen gestaltete Isenheimer Altar. Von Grünewald stammt das Konzept und die Ausführung der zehn darin integrierten Gemälde. Die Gemälde werden ergänzt von einem großen holzgeschnitzten Tryptychon und einem ebenfalls geschnitzten Bas-Relief, die beide Nikolaus von Hagenau zugeschrieben werden.
Vor der Wucht mancher Bilder kann ich geradezu über-empfindlich reagieren und es kommt die schnelle Ermüdung hinzu, die mich in der Konfrontation mit zu vielen Bildern ereilt. So will ich mich ausschließlich mit zwei Gemälden des Altars näher befassen, den ich vor Jahrzehnten ein erstes und letztes Mal erblickt habe.
Das Zentrum des Altars besetzt das Kreuzigungsgemälde. Aus diesem Bild wird man von der morbiden Thematik der Menschen-Opferung geradezu angesprungen. Die Zelebration der traumatisierenden Szenarien auf denen sich christlich begründete Herrschaftstechnik stützt, wird hier zu einem erbarmungslosen Höhepunkt geführt. Darin aber auch untrennbar verwoben sind einerseits die tiefsten Schichten menschlicher Angst und zum anderen die höchste Kraft des Erbarmens, so dass es fast unmöglich scheint der hypnotischen Wirkung dieses Werkes zu entkommen.
Vorab lasse ich meine Blicke noch etwas schweifen. Wie kann man sich des Liebreizes der gelösten, glücklichen Gottesmutter entziehen? Sie erscheint drei Mal im Gesamtwerk des Altars. Zwei Mal sieht man sie in der glanzvollen Schönheit der empfangenden Jungfrau und der Gottes-Gebärerin. In beiden Rollen erinnert mich die Ikonographie Mariens immer wieder an eine der unsterblichsten menschlichen Sehnsüchte: das kreatürliche Eins-Sein mit einem gütigen Weltenplan, ein wenig so wie man es auf den in sich versunkenen Gesichtern golden strahlender Buddha-Darstellungen erblicken kann. Auf dem dritten Bild ist Maria als die in unsägliche, in tödliche Trauer vollständig eingemauerte Menschenfrau dargestellt. Grad an diesem Bild kann ich meine fundamentale Ablehnung ihrer Figur wiederfinden: an der im christlichen Kanon festgeschriebenen inneren Zustimmung Mariens zum Opferschicksal ihres Kindes, ihres Sohnes. Eine gängige, ihren Gottesgehorsam preisende Formulierung heißt: „So hat denn Maria ihren Sohn vor seinem Kreuzestod bereits hundertfach auf dem Altar ihres Herzens geschlachtet“. Was für eine furchtbare Mutter!
Das Kreuzigungsgemälde aber saugt mich geradezu in sich rein. Hier zwingt sich die ganze Not der geschundenen Menschheit auf und die fünfhundert Jahre zwischen der Entstehung des Bildes und meinem heutigen Blick sind vollkommen bedeutungslos, ist doch die Opferung, die Folter, die millionenfache Vernichtung immer noch von dieser Welt. Welche Apotheose des Grauens! Hier ist kein gefällig dargebotener, schöner halbnackter Mann zu sehen, sondern ein geschundener Leichnam. Kein Zentimeter seiner Haut ist mehr heil. Keinerlei Frieden im Grün-Grau seines verzerrten Gesichts, die Hände immer noch in einem letzten Krampf gekrümmt.
Zur Erholung dann noch ein langer Blick auf die „Versuchung des Heiligen Antonius“. Im Vergleich zur Kreuzigung ist dieses groteske Horrorszenario geradezu kurzweilig, ein Höhepunkt fast komischer Dämonologie. Eine ganze Reihe genialer Maler und Zeichner des Hochmittelalters – Hieronymus Bosch, Brueghel, Schongauer, Dürer seien hier genannt -, haben eine bunte Sammlung exzentrischer Zerrbilder hinterlassen, welche die heutige Ästhetik immer noch vor- und überformen bis hin zu den Figuren moderner Alien- und Horrorfilme. In unendlichen Varianten haben diese Abziehbilder immer wieder neue Bild- und auch Text-Produzenten inspiriert, darunter Max Ernst, Salvador Dali oder als Schriftsteller beispielsweise Gustave Flaubert oder futurologische Autoren wie Stanislaw Lem und die Brüder Arkadi und Boris Strugatzki. Mitten unter dieser Bande amüsanter Monster liegt Antonius und wird ein wenig gebeutelt, gezwackt und gezwickt. Es wäre ein eher unterhaltsames Bild wenn nicht gegenüber des Heiligen diese nun wahrlich grauenvolle Figur des vom „Antoniusfeuer“ Befallenen wäre. In ihm sind beide Schrecken vereint: der mit eiternden Schwären übersäte Mensch im Endzustand seines körperlichen Verfalls und der gequälte Schmerzensschrei eines halluzinierenden Ver-rückten, einer gänzlich in ihrem Entsetzen entrückten Kreatur. Ist das ein Mensch?
Die Legende besagt, dass Antonius sich im 4. Jahrhundert nach der angenommenen Geburt Christi als Eremit in die Wüste Ägyptens zurückgezogen hatte, um sein restliches Leben in der Kontemplation Gottes zu verbringen. Er hielt ein Regime strenger Askese ein, was mutmaßlich seine hirngespinstigen Zustände und Visionen sehr begünstigte, Ereignisse die ihn davon überzeugten dann und wann von Dämonen heimgesucht zu werden. In seinem nicht übervölkerten Lebensumfeld wurde er geliebt und geachtet ob seiner hilfreichen Hinwendung zu den Kranken.
Im Mittelalter wütete insbesondere in Frankreich während vieler Jahrhunderte eine entsetzliche Seuche. Man verstand lange nicht, dass sie verbunden war mit dem Verzehr von Mutterkorn, einem parasitären Getreidepilz der vorzugsweise auf Roggenähren siedelt. Die Mutterkornvergiftungen erreichten in der Mitte des 13. Jahrhunderts epidemische Ausmaße, gewiss auch den grassierenden Hungersnöten geschuldet, die so viele Menschen zwangen alles zu essen was sie nur vorfinden konnten. Die Symptomatik dieser Seuche war schon aus früheren Zeiten hinlänglich bekannt. So schrieb Siegbert de Gembloux 1089: „Viele Menschen wurden von einem inneren Feuer befallen, das sie so sehr verzehrte, dass ihre Glieder so schwarz wie Kohle wurden. Entweder starben sie elendiglich, oder es fielen ihnen Hände und Füße ab und sie fristeten ein kümmerliches Dasein. Viele Menschen litten, von nervösen Krämpfen geschüttelt, wahre Höllenqualen“.
Der sogenannte Mutterkornpilzbrand verursacht ein intensives Verbrennungsgefühl in den Gliedmaßen durch dauerhafte Gefäßkontraktionen, die bis zur vollständigen Unterbindung der Blutversorgung führen können. Zu den irrsinnigen Schmerzen kommt es aber zusätzlich zu Halluzinationen und schweren Muskelkrämpfen, so dass die Kranken sich winden und schreien, Unverständliches murmeln ob der ihnen zusetzenden, häufig dämonischen Vorstellungen entsprungenen Erscheinungen. Sehr oft mutmaßte man demzufolge „Besessenheiten“ aller Art. Heute weiß man, dass der Mutterkorn-Pilz Alkaloide enthält, die eng verwandt sind mit der chemischen Verbindung Lysergsäurediäthylamid aus der die im 20. Jahrhundert erstmals synthetisch hergestellte Droge LSD besteht, mit deren halluzinogener Wirkung etliche Menschen Bekanntschaft gemacht haben.
Es kam Anfang des 13. Jahrhunderts zur Gründung einer Laienbruderschaft die sich im Namen des Heiligen Antonius der Pflege widmeten vor allem jener Hilfsbedürftigen die unter dem nun „Antonius-Feuer“ oder „Heiliges Feuer“ genannten Krankheitsbild litten und starben. Der später päpstlich bestätigte Orden gründete derhalben eine große Zahl der Krankenpflege gewidmeter Abteien. Die Mönche pflegten und beköstigten die Kranken, zur empfohlenen Diät gehörte vor allem Weizenkost, das Getreide das am ehesten parasitenfrei bleibt. Mit dem Effekt der Gefäßerweiterung gab man „Heiligen Wein“ der mit einer Kräutermischung versetzt war, deren Zusammensetzung man heute nicht mehr kennt. Der Orden stellte Bader und Chirurgen ein, die aus bekannten Gründen diverse Amputations-Techniken perfektionierten. Da sich dies schnell herumsprach, suchte man die Antonius-Bader gerne bei anderen notwendigen Amputationen auf, die in Zeiten von Scharmützeln und Kriegen häufig anstanden.
Die meisten Bauern konnten für die erhaltene Pflege nicht viel Bares geben und gaben oft ein Ferkel, so kam der Orden in den Besitz eines wachsenden Schweine-Bestandes. Der Vatikan sprach dem Orden das Vorrecht zu, die sogenannten Antonius-Schweine, sowohl in allen Ortschaften als auch auf noch vorhandenen sogenannten Allmenden, Wäldern und Weideflächen die eigentlich den örtlichen Bauerngemeinschaften vorbehalten waren, frei herumlaufend ihre Nahrung zu suchen. An dieses lukrative Vorrecht erinnern viele Bilddarstellungen des Heiligen, auf denen ihm zumeist ein Schwein zur Seite steht.
In jener Zeit fand sowohl die christliche Reconquista mit der Unterwerfung und/oder Vertreibung der Muslime der Iberischen Halbinsel statt als auch die Eroberung der arabischen Territorien in Süditalien und Sizilien durch die längst christianisierten Normannen. Auch der Hochmeister antisemitischer Diskriminierung und Verfolgung, der „heilige“ Louis XI, mag zur allgemeinen Beliebtheit eines Heiligen und Schutzpatrons beigetragen haben, der gewöhnlich in fröhlicher Begleitung eines Schweins dargestellt wurde.
Die Isenheimer Kreuzigung und der Schreiende hängen mir noch lange buchstäblich wie Leichname in der Seele. Kein Heil? Nirgends? Im Auto mute ich mir Bachs Matthäus-Passion in ganzer Länge zu. Ich fahre schon in Lyon ein, als der Schlusschoral „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ ertönt. Da breche ich selbst in Tränen aus. Was trägt die Menschheit nicht alles in sich und auf welche unterirdische Weise wirkt dies in uns alle nach!
Zum Glück können wir noch weinen. Ich erinnere mich, gewusst zu haben dass das „Schmerzhormon“ Prostaglandin in der menschlichen Tränenflüssigkeit enthalten ist: demnach schwemmen wir Schmerz aus uns heraus, wenn wir weinen.
Andrej Tarkowski fällt mir ein.
Der sowjetische Filmregisseur Andrei Tarkowski hat dem berühmtesten Ikonenmaler Russlands, Andrei Rubljow, einen aufwühlenden Spielfilm gewidmet, den er 1966 vollendete. Rubljow lebte in der Zeit des Umbruchs zwischen Mittelalter und Neuzeit, und seine Ikonen entwarfen die Entwicklung eines neuen Menschenbildes.
Im Film gibt es einen mir unvergesslichen Dialog. Es geht um den fürstlichen Auftrag, die Wände einer Kirche mit einigen Szenen des Letzten Gerichts zu schmücken. Andrej Rubljow verweigert seit Wochen die Arbeit daran. In der grandiosen Landschaft eines sich himmelweit erstreckenden blühenden Rapsfeldes, streitet er mit seinem Freund und Kollegen Danila, der ihm zuredet: „Das letzte Gericht! Nun fang endlich an zu malen! Ganz vorne rechts sehe ich sie doch schon, die Verdammten, wie sie brüllen in dem siedenden Pech! Und gleich vor mir sehe ich wie der Teufel sein wird … mit rauchendem Maul, mit stechendem Blick …“.
Müde antwortet ihm Andrej: „Darum geht es doch nicht …“. Danila unterbricht ihn: „Also, warum beginnst du denn nicht zu malen?“.
Da platzt es aus Andrej heraus: „Weil ich es nicht kann! Ich will dies nicht mehr malen! Versteh mich doch Danila, ich will die Menschen nicht mehr in Angst versetzen! Versteh mich doch, Danila!“.
Andrej Rubljow und in seiner Nachfolge Andrei Tarkowski haben ihr/mein/unser Problem auf der Ebene der Ikone und des Film-Bildes, auf ihre Weise gelöst:
Die beschriebene Szene lässt alle Probleme einer Annäherung an die Darstellung von Geschichte konvergieren, die Shoah ebenso wie alle anderen Menschheitshöllen betreffend. Trotz des unbestritten notwendigen Respekts vor der wissenschaftlichen Pflichtenlehre der Geschichtsschreibung bleibt die fundamentale Frage doch: welches Menschen- und Menschheitsbild liegen diesen Repräsentationen des Vergangenen und des Vergehenden (Gegenwart ist ja nur werdende Vergangenheit) zugrunde? Legendenbildungen ebenso wie Geschichtsschreibung fußen notwendigerweise immer auch auf einer ethischen Positionsbestimmung.
Am Ende des Filmes wandert ein langer Blick über das Angesicht des „Menschensohnes“. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer der sublimsten Ikonen Rubljows. Anfangs sehen wir ein einzelnes Auge des Menschensohns. Darin ist seine furchtbare Kenntnis der Abgründe menschlicher Qual eingeschrieben. Dann erblicken wir das zweite Auge. Dort leuchtet ein unendliches Erbarmen. Die Kamera nimmt nun Distanz auf und öffnet sich auf das gesamte große Antlitz, und wir sehen, wie die einzelnen Elemente sich verbinden zu einem Ausdruck fast heiterer, befriedeter Entrückung. Das Bild weitet sich erneut, und rund um die zentrale Christus-Figur entfaltet sich eine überwältigende Fülle an Schönheit und Sonne, an Farben, Tieren und Pflanzen, an Menschen, ernst oder heiter, fleißig oder in stiller Betrachtung versunken. Hier gibt es keinerlei Apotheose des Todes, der Hölle und der Folter….
Mit diesem Schlussbild entlässt und erlöst uns Tarkowski aus der Textur jener vielen auch und gerade in diesem Film ins Höllische getriebene Szenen. Die Geschichte des malenden Mönches Rubljow ist die eines an Gott und der Welt verzweifelnden Menschen, der am Ende doch in der Überschreitung seines Weltekels, in seinem Festhalten an der Schönheit des Lebens, in seiner künstlerischen Resilienz in einen Zustand der Überwindung tritt.
In der Nachfolge Rubeljows erlaubt uns Tarkowskis Film diesen Weg nachzuvollziehen. Die Hölle ist aufgelöst in Widerworte und Widerbilder.
Anna Tüne / 2019