
Alain Claude Sulzer erhält den Solothurner Literaturpreis 2025

Wir gratulieren unserem Autor Alain Claude Sulzer zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2025!
Die Verleihung des Solothurner Literaturpreis findet am Sonntag, 1. Juni, im Stadttheater Solothurn im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt. Die fünfköpfige Jury, bestehend aus Franziska Hirsbrunner, Florian Bissig, Leonora Schulthess, Eva Seck und MarKn Zingg, würdigt den Schweizer Autor für sein literarisches Œuvre.
In der Begründung der Jury heißt es: «Der Schriftsteller hat über vier Jahrzehnte ein literarisches Werk geschaffen, das ein rundes Dutzend Romane sowie kürzere Prosa umfasst. Ob sich Sulzer in einen Stoff des 19. Jahrhunderts vertieft oder in die Nachkriegsgesellschaft zurückversetzt: Stets vermag er glaubwürdige Stimmungslandschaften zu erzeugen und bringt den Lesenden Protagonisten nahe, die man leicht als Nebenfiguren der Geschichte übersehen könnte. Nicht selten sind der Künstler, sein Leben und die Kunst das latente oder manifeste Thema seiner Romane. Doch in Sulzers Schaffen sedimentieren sich auch gewaltsame Realitäten vom sexuellen Übergriff bis hin zu strukturellen Unterdrückungsmechanismen. Dabei schreibt der Romancier unbeirrt und immun gegenüber kurzfristigen Trends. Verdrängtes holt er nüchtern und behutsam zurück ans Licht und beweist mit jedem Werk seinen Willen zur Form und ein unvergleichliches Gespür für Sprache und Stil.»
Unten können Sie die Laudatio von Nicola Steiner und den Dank von Alain Claude Sulzer nachlesen.
Laudatio von Nicola Steiner
Sehr verehrte Damen und Herren! Lieber Alain!
Endlich! Das war mein erster Gedanke, als ich hörte, dass Alain Claude Sulzer den Solothurner Literaturpreis erhält!
Alain Claude Sulzers Werk ist nicht nur seit vielen Jahren eine Konstante in meiner eigenen Lesebiographie – seit mehr als vierzig Jahren prägt der 1953 in Riehen bei Basel geborene Schriftsteller massgeblich die deutschsprachige Literatur. Man muss sich vorstellen: Mit Anfang 30 begann Alain Claude Sulzer,
nach einer Ausbildung als Bibliothekar, zu schreiben, erst journalistisch, dann bald schon literarisch.
1984 erhielt er den Rauriser Literaturpreis in Österreich – für sein Debut «Das Erwachsenengerüst». Es folgten, wenn ich richtig gezählt habe: 15 weitere Romane, von seinen Herausgeber-Tätigkeiten, Rezensionen und Übersetzungen ganz zu schweigen. 2008 bekam er den Prix Médicis étranger in Frankreich, 2009 den Hermann Hesse-Preis in Deutschland. Diese Preise sprechen für sich. Auch in der Schweiz erhielt er ein paar Preise (und einen Werkbeitrag nicht) – der Solothurner Literaturpreis war nun aber echt überfällig. Und das sage ich als ehemalige Jury-Vorsitzende. Und als grosse Liebhaberin seiner Literatur. Und ja, auch als Freundin. Endlich.
Vielleicht liegt diese Verzögerung daran, dass es ein Werk ist, das nicht schreit und sich nicht aufdrängt. Es ist ein leises, elegantes Werk, mit einer grossen Welthaltigkeit, das Gesellschaft und Lebensentwürfe verhandelt. Und sich zugleich zutiefst dem Innenleben seiner Figuren verpflichtet fühlt. Es sind lebendige Figuren, unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft, auf der Suche nach sich selbst und nach einem Platz im Leben. In all ihrer Verletzlichkeit und Verletzbarkeit lässt Alain Claude Sulzer ihnen immer ihre Würde und zeichnet sie bei aller Abgründigkeit leicht, oft mit einem Hauch Ironie, einem Augenzwinkern. In jedem Fall mit dem feinen Florett.
Alain Claude Sulzers Figuren leben oft im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Existenz und dem Wunsch, aus eben dieser Ordnung auszubrechen. Sie kennen die Normen und gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden. Und sie ahnen, dass sich ihre Sehnsüchte innerhalb dieser bürgerlichen Grenzen nicht erfüllen werden. Was also tun? Nichts wie weg, rät der Autor ihnen immer wieder.
Ganz besonders sichtbar wird dieses «Flucht»-Motiv in Sulzers Roman «Aus den Fugen» von 2012. Dort entscheidet sich der berühmte Pianist Marek Olsberg (der später in «Fast wie ein Bruder» erneut einen kurzen Auftritt haben wird) mitten während eines Konzerts in der Berliner Philharmonie: «Das war’s!».
Er schlägt den Klavierdeckel zu, steht auf, verlässt die Bühne und geht erst mal ein Bier trinken. Und dann? Dann eröffnet Alain Claude Sulzer den Reigen und nimmt uns mit in die Lebens- und Liebesgeschichten seiner Figuren. Nicht nur der Hauptfigur, sondern – auch das gehört zu seinen Romanen – einer ganzen
Reihe eindrücklicher Nebenfiguren. Alles ist miteinander verbunden.
Es geht um Liebe – sehr oft homosexuelle, immer wieder auch heterosexuelle–, es geht vor allem um die Unmöglichkeit der Liebe in ihren vielfältigen Formen. Es geht um Sexualität, um Begehren, um Erregung, um Affären, um das Scheitern der Liebe. Es geht um Sinnlichkeit, um amouröse Abenteuer und Geliebte. Bei Alain Claude Sulzer wird viel geliebt und viel gelitten, immer wieder, aber nicht krachend, sondern eindringlich-zart, fast nebenbei.
Übrigens ist auch in seinem aktuellen Roman «Fast wie ein Bruder» eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern zu lesen, und diese Annährung einfach zauberhaft, in feinen Strichen erzählt.
(«Ihre Blicke hatten sich einen Lidschlag zu lange verhakt, als wollten sie verschmelzen. Sie waren aneinander hängen geblieben wie Klinge und Magnet. Es gab kein Entwinden, kein Entkommen, keine Distanz. Nur mit Mühe rissen sie sich voneinander los. (…) Sie hatten kein Wort gewechselt. Die Luft, die auf der Haut zu spüren war, das fliegende Haar, der Duft der Seife genügten. Zu spät, ihn zu berühren, jetzt auf der Stelle. Er wusste, worauf es hinauslief und dass sie sich einig waren. Sie waren schon miteinander verbunden, bevor sich die Haustür hinter ihnen schloss. Es war nur eine Frage des Augenblicks und der Gelegenheit, wann es passieren würde, denn nichts und niemand konnte sie nunmehr daran hindern.»)
Alains Romane sind fein komponiert wie Musik. Die Musik, Alains Lebensliebe. Zentral für sein Leben, zentral aber auch für sein Schreiben. Er hat Libretti geschrieben und erweckt als Kurator seit vielen Jahren in Basel Joseph Haydn zu neuem Leben. In meinen Augen ist Alains Liebe zur Musik der Schlüssel zu seinem Werk. Sein Schreiben ist Rhythmus, ist Klang. Es gibt kaum einen Autor, dessen Stil so formsicher und brillant, dessen Sprache so klar und präzise und dessen Ton so elegant ist. (Wir haben es vorhin in der Lesung von Miriam Japp aus dem Roman «Doppelleben» über die Brüder Goncourt von 2022 alle hören können.) –
Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich gebe zu, ich sass in den letzten Tagen am Pult und habe mit jedem einzelnen Satz dieser Laudatio gerungen – wie soll man in zehn Minuten diese 40 Jahre literarisches Schaffen hinreichend würdigen? Vor allem, wenn man dem Autor eigentlich zu nahesteht, um eine wirklich solide Laudatio auf sein Lebenswerk halten zu können? Und dann funkte mir immer wieder auch der Gedanke an Alains stilistische Brillanz dazwischen. Beim Blick in seine Bücher konnte ich mir gar
nicht vorstellen, dass er jemals mit einer Schreibblockade zu kämpfen hatte, so leicht scheint ihm alles von der Hand zu gehen. (Ich bin nebenbei bemerkt froh, dass Alain heute nach mir reden wird...)
Die Jury hebt in ihrer Begründung ganz zu Recht seinen «Willen zur Form» und sein «unvergleichliches Gespür für Sprache und Stil» hervor.
Und nein, ich werde an dieser Stelle nicht auf die Diskussion um Sprachverbote eingehen, die Alain vor zwei Jahren mit einem Textauszug aus seinem aktuellen Roman «Fast wie ein Bruder» in der Presse angestossen hat. Auch daraus werden wir später von Miriam Japp noch eine Kostprobe hören – ohne das
heikle Wort wohlbemerkt!. Was diese unleidliche Debatte betrifft, ist alles gesagt, sogar von mir.
Stattdessen wünsche ich mir hier und jetzt von Herzen, dass Alain Claude Sulzer endlich einmal eine Poetikvorlesung halten soll. (Es darf auch Frankfurt oder Bamberg sein; auch das ist längst überfällig!)
Alain Claude Sulzer ist in jeder Hinsicht ein Ästhet. Mit seinen Kenntnissen in Literatur, Kunst, Musik trumpft er nicht auf, er verwebt sie elegant mit seinen Figuren, die oft Schriftsteller, Filmer, Künstler sind. Aber nicht nur.
Und dieses «nicht nur» ist entscheidend. Alain Claude Sulzers Werk deckt eine inhaltliche Breite ab, die immer wieder überrascht und mich jedes Mal neugierig zum nächsten Buch greifen lässt. Er schlägt den literarischen Bogen gekonnt von den Goncourts und ihrer Haushälterin Rose in Paris zum Basler Schaufensterdekorateur, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von der Wohnsiedlung in Bochum bis in die mondäne Welt eines Grandhotels in Sils Maria mit seinen Pagen. Und auch hier sei die Jury zitiert: Sulzer «bringt den Lesenden Protagonisten nahe, die man leicht als Nebenfiguren der Geschichte
übersehen könnte.»
So verschieden und vielfältig seine Bücher sind – und jedes ist anders –, durchziehen sein Werk doch wiederkehrende Motive: Spiegelungen, Doppelungen, Doppelleben, Zwillingskonstellationen: sei es bei den Brüdern Goncourt, die ein symbiotisches Leben führen, gleichzeitig Migräne oder Lust auf Froschschenkel bekommen und sich sogar die Geliebte teilen, oder bei den siamesischen Zwillingen in «Die siamesischen Brüder», 1990 schon.
Bruderschaft, die homosexuelle Liebe erwähnte ich bereits, auch das Thema Freundschaft spielt immer wieder eine zentrale Rolle, nicht nur im aktuellen Roman. Alain Claude Sulzer schreibt über das Leben.
Und trotzdem feiert er in fast jedem seiner Romane die Fiktion, und auch dafür schätze ich ihn, gerade in diesen Zeiten, in denen die Autofiktion Hochkonjunktur hat. In «Unhaltbare Zustände» von 2019 heisst es am Anfang:
«Ich hatte eine ausgeprägte Vorstellung davon, wie es sein würde, eines Tages Schriftsteller zu sein. Was um mich herum geschah, interessierte mich allerdings wenig. Mit einer Ausnahme habe ich damals über Dinge geschrieben, die ich mir ausdachte, nicht über die Wirklichkeit.»
Alain selbst interessiert sich sehr wohl für das, was um ihn herum geschieht! Und über die Wirklichkeit hat er in «Die Jugend ist ein fremdes Land» 2017 geschrieben, ein autobiographisch grundierter Text, in dem er sich an seine Jugend in Riehen erinnert. Darin heisst es:
«Geheimnisse lassen sich in Romanen leicht aufklären, dazu sind Romane da, man öffnet das Gehäuse verborgener Uhrwerke und sieht das Leben darin ticken. Das Leben spielt anders, sotto voce meistens.»
Lieber Alain, ich danke dir für deine Literatur – sotto voce – und ich wünsche mir, dass du für uns Leser noch möglichst viele Geheimnisse aufklärst. Dieser Preis, der dir heute verliehen wird, ist nicht nur überfällig, er ist höchst verdient. Ich danke der Jury für diesen Entscheid! Herzlichste Gratulation zum
Solothurner Literaturpreis 2025, lieber Alain!
Dank von Alain Claude Sulzer
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, geschätzte Mitglieder der Jury, Frau
Stadtpräsidentin
Stellen Sie sich vor, Sie stünden hier an meiner Stelle auf dieser Bühne. Sie wüssten, genau wie ich, schon seit einem halben Jahr davon und hätten sich seither immer neue Dinge überlegt, die Sie hier oben sagen könnten. Möglichst etwas Originelles.
Nun, vermutlich würden Sie zunächst die Anwesenden begrüßen, dann würden Sie sich bei der Jury bedanken und deren Begründung loben, weil Sie ihr langjähriges literarisches Tun und Lassen darin widergespiegelt sehen (das täten Sie aus Höflichkeit auch dann, wenn es gar nicht der Fall wäre). Sie
würden sich bei der Laudatorin Nicola Steiner für ihre Laudatio bedanken, die zu schreiben ihr hoffentlich leicht fiel, und bei Ihrem Verleger für seine ungebrochene Solidarität und langjährige Freundschaft, und dann noch das eine oder andere mehr oder wenige Ausgefallene oder Abgedroschene sagen, bevor
Sie sich wieder von der Bühne entfernten, um dort unten zwischen denen Platz zu nehmen, die, wie Sie, den Preis in Wahrheit nicht erhalten haben. Spielend hätten Sie sich in die Haut dessen versetzt gehabt, der sich in diesem Augenblick tatsächlich immer noch da oben auf der Bühne befindet. Sie sind es also nicht,
der hier oben steht. Vielleicht möchten Sie es aber sein – wegen des Preisgeldes –, oder Sie möchten es auf gar keinen Fall sein, weil Sie die Bücher, die der da oben schreibt, nicht mögen oder gar nicht kennen oder Preisen gegenüber ohnehin grundsätzlich skeptisch eingestellt sind, oder weil Sie ganz andere Bücher schreiben würden, wenn Sie könnten, oder jede Menge ganz anderer Bücher geschrieben hätten, wenn Sie hier oben stünden; vermutlich wären sie auch eine Frau. Die geschätzte Jury und die Laudatorin hätten deshalb natürlich ganz andere Formulierungen gefunden, um Ihrer Literatur gerecht zu werden. Doch diese Bücher kennen nur Sie; ich, der ich sie Ihnen soeben angedichtet habe, habe keine Ahnung, wofür Sie eigentlich den Solothurner Literaturpreis erhalten haben – Sie und nicht ich, der ich Ihnen den Preis womöglich ein wenig neiden würde, so wie Sie ihn mir vielleicht ein wenig neiden, der Sie in diesem Augenblick gern in meiner Haut stecken würden und nicht in Ihrer eigenen, wegen des Geldes und wegen der Ehre, je nachdem, was Ihnen wichtiger ist …. Ich muss jetzt aufpassen, mich nicht zu verzetteln und die
geschätzte Gewogenheit der Anwesenden zu verscherzen.
Machen wir es also kurz: Ich wollte Ihnen eigentlich in wenigen Sätzen nur erzählen, wie es ist, wenn man sich – in diesem Fall viel flüchtiger als in einem Roman – in eine oder mehrere Personen versetzt, die man nicht ist, denn tatsächlich haben nicht Sie sich in die Person da oben versetzt, sondern die Person da oben, der Autor Alain Claude Sulzer, war so frei, das zu tun, was er ja ständig tut: Er hat sich in verschiedene Personen hineinempfunden, die er nicht ist. Er tat es, indem er sich Gedanken, die niemand anderer als er selbst sich ausgedacht hat, aneignete, um daraus einen Text, Teil einer Rede, zu machen, der bestenfalls räumlich nah an der Wirklichkeit – diesem hübschen kleinen Theater – ist. Der Rest ist Illusion.
Nicht Sie haben sich also in die Haut des Preisträgers versetzt, sondern dieser hat ein paar mögliche Gedanken in den Kopf einer oder mehrerer Gestalten, eines Hirngespinsts gepflanzt, Gedanken, bei denen es sich um nichts weiter als Unterstellungen, Behauptungen, Fiktionen handelt. Ich habe mir erlaubt, mir etwas anzueignen, was sich an der Realität bedient, obwohl es außerhalb der Realität liegt, womit wir bei einem Wort sind, das in letzter Zeit bei manchen Zeitgenossen immer wieder für Verwirrung sorgte, obwohl
Literatur ohne dieses nicht denkbar ist, ja ihren Namen nicht verdient: Aneignung. Denn selbst wer lebenslänglich ausschliesslich über sich schreibt, kommt nicht umhin, in Kategorien zu denken, die nicht seine eigenen sind, indem er unterstellt und wertet, wie und warum andere auf ihn eingewirkt haben. Auch er eignet sich fremde Gedanken an, die in Wirklichkeit reine Vermutungen sind.
Wir befinden uns auch in diesem Augenblick wie in der Literatur im Schattenbereich zwischen Realität (hier in diesem Theater) und Literatur (hier das Blatt Papier, von dem ich ablese, auf dem sich das – jedenfalls für mich Wesentliche – dieses Augenblicks abspielt, also das, was der sagt, der da oben steht und der sie nicht sind und in dessen Haut Sie vermutlich auf keinen Fall stecken möchten, schon gar nicht in seinem Kopf, denn Sie haben Ihre eigenen Vorstellungen von Dankesreden und können dem, was der da oben eben von sich gegeben hat, möglicherweise absolut nichts abgewinnen). Dann lesen Sie eben seine Bücher und vergessen diese Rede.
In der noch eines fehlte: Der herzlichste Dank an die Jury und die Sponsoren dieses Preises.