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Dirk Brauns: Die Unscheinbaren

Ein hochspannender, aufwühlender Roman über einen Spionagefall und seine Folgen, angeregt durch die Familiengeschichte des Autors.

Es ist der Schockmoment seines Lebens: An einem kalten Wintertag im Jahre 1965 muss der achtzehnjährige Martin Schmidt in Gegenwart seiner Großmutter miterleben, wie die Stasi seine Eltern verhaftet: Seit vielen Jahren hatten diese – vor allem auf Betreiben seiner manipulativen Mutter – für den BND spioniert.

Das Leben im sozialistischen Deutschland wird für Martin daraufhin zum Spießrutenlauf: Von seinen Mitschülern wird er geschnitten und verprügelt, beim Einkauf verhöhnt, die Nachbarn wechseln vor dem "Verräterkind" die Straßenseite. Die Großmutter verkraftet die Schande nicht und stirbt bald darauf. Als seine Mutter Jahre später freikommt, folgt er ihr in den Westen – zurücklassen muss er dafür Angelika, die große Liebe seines Lebens …

Jahrzehnte später holen ihn diese traumatischen Ereignisse wieder ein: Er ist inzwischen gestandener Tierarzt in Bayern, frisch verwitwet. Historiker bitten ihn, seine Geschichte zu erzählen – er stimmt zu, auch um damit einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Als er dies bei einem Besuch im Altenheim seiner Mutter eröffnet, erzählt sie im Gegenzug, dass Angelika bei ihr angerufen und sich nach ihm erkundigt habe – allerdings schon vor Jahren; als seine Frau noch lebte, wollte sie es ihm nicht mitteilen. Für Martin beginnt eine Reise zurück zu den Wurzeln. Er kontaktiert Angelika, stößt in Akten auf Widersprüche und Ungereimtheiten, taucht ein in die Welt der Geheimdienste und toten Briefkästen.

Und er findet dabei nicht nur zur Geliebten seiner Jugendjahre zurück – er stößt auch auf schockierende Informationen darüber, wer damals die Eltern verraten hatte und wer davon alles profitierte.

Zum Hintergrund des Romans

Interviews mit Beteiligten

 

Dr. Rainer Brauns, Vater des Autors

Können Sie sich in Martin Schmidt, der Hauptfigur des Romans, wiederfinden?
Die Unscheinbaren erzählt eine Geschichte, die von der gelebten Wirklichkeit unserer Familie stark abweicht.
Charakterlich ist mir Martin Schmidt möglicherweise nicht unähnlich. Aber meine Biografie, auch mein Berufsweg, verliefen völlig anders. Ich bemerke eher eine gewisse, faktische Nähe zu meinem vor zwanzig Jahren verstorbenen Bruder. Er siedelte in den Westen über und wurde Tierarzt.

Manche der im Roman geschilderten Abläufe – insbesondere die Verhaftung und Vernehmung meiner Eltern durch das Ministerium für Staatssicherheit – beruhen auf Tatsachen. So oder ähnlich ist das damals passiert. Den weiteren Verlauf der Handlung aber hat mein Sohn erfunden. Da gibt es nur wenig Bezüge zum realen Geschehen.

Inwiefern haben Sie Ihren Sohn beim Schreiben des Buches unterstützt?
Wir haben intensiv geredet. Zu Beginn seiner Recherche vor etwa drei Jahren, aber auch noch später, während des Schreibens. Nicht selten rief er an und erkundigte sich nach irgendwelchen Details: die Raumaufteilung des Hauses oder Apfelsorten in unserem damaligen Garten. Insbesondere zum Ablauf der Verhaftung meiner Eltern im Februar 1965, aber auch zu den Lebensverhältnissen in Berlin-Blankenburg jener Zeit habe ich ihm Fragen beantworten können. Wir waren auch gemeinsam vor Ort und trafen den Chronisten der Gemeinde.

Erwähnen möchte ich, dass mein Sohn Archivmaterial der Staatssicherheit und des Bundesnachrichtendienstes einsehen konnte. Auch darüber haben wir uns ausgetauscht. Beim Schreiben aber blieb ich Zaungast und habe erst das fertige Manuskript einsehen können.

Wie war es für Sie, diese Geschichte zu lesen?
Der Roman, obwohl fiktiv, hat mich sehr berührt, da die Verhaftung meiner Eltern – als entscheidendes und tiefgreifendes Ereignis meiner Jugend – den Ausgangspunkt für meinen weiteren Lebensweg bildete.

Beschriebene Personen und Orte sind eng mit meinem damaligen Leben verbunden.

Durch die ausführlichen Gespräche mit meinem Sohn traten die nach über fünfzig Jahren verdrängten negativen Erfahrungen wieder in den Vordergrund, weshalb ich dem Vorhaben anfangs skeptisch gegenüberstand. Mit der schrittweisen Einbindung in die Recherchen wurde diese anfängliche Skepsis jedoch überwunden und ich habe ihn unterstützen können.

Als Zeitzeuge ist meine Sicht auf den Roman sicher eine andere als die eines neutralen Lesers. Einige Charaktere des Buches sind mir sehr vertraut. Dadurch entstand beim Lesen ein ungeheurer Sog. Von Neugier angetrieben habe ich das Buch verschlungen.

Dr. Hans-Georg Wieck, ehemaliger Präsident des BND

Was erzählt Ihnen als ehem. Präsidenten des BND der Roman Die Unscheinbaren?
Der Einsatz "menschlicher Quellen" ist für jeden Nachrichtendienst problematisch und mit hohen Risiken für das Leben und die Freiheit des Agenten verbunden. Der Roman liefert anschauliches "Material" in dieser Hinsicht.

Wie realistisch ist Ihrer Meinung nach die "menschliche Seite" der Spionage geschildert?
Der Roman behandelt Entwicklungen im geteilten Deutschland und gibt Einblick in die inneren Konfliktsituationen, in die sich Deutsche in beiden Teilen des Landes verwickelt sahen.

Nehmen Agenten bei ihrer Tätigkeit auf eine andere, speziellere Art Schaden als Menschen anderer Berufsgruppen?
Agenten werden von ihren "Diensten"geführt. Der Agent entscheidet in eigener Verantwortung, ob er die mit seiner Tätigkeit für ihn und andere Menschen verbundenen Risiken auf sich nehmen will. In Deutschland spielte sich eine globale machtpolitische und ideologische Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes und Europas ab, die mit dem Zusammenbruch der sowjetischen Vorherrschaft in Mitteleuropa und schließlich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete. Viele menschliche Schicksale sind davon betroffen gewesen.

Dr. Peter Krumme, Literaturwissenschaftler an der Uni Heidelberg und langjähriger Berater des Autors

Warum existiert das Genre "Spionageroman" in Deutschland bislang nicht?
Das hängt vielleicht mit den historischen Bedingungen zusammen, unter denen die beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Es dauerte eine ganze Weile, bis wieder Geheimdienste aufgebaut waren, und die hatten nicht die Befugnisse und die Macht wie etwa die Geheimdienste der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens oder Israels.

Geheimdiensten steht man zudem in Deutschland bis heute vermutlich mit noch größerem Misstrauen und weniger Patriotismus gegenüber als in anderen Ländern, und wenn man an deren Arbeit denkt, dann stellt man sich eher ein miefiges Beamtenmilieu und wenig intelligente Agenten vor, die grundsätzlich Probleme mit dem Recht bzw. Rechtsstaat haben, aber gleichzeitig zutiefst überzeugt von ihrer eigenen Wichtigkeit sind.

Vorstellungen von Glamour oder einem abenteuerlichen Leben, die Stoff für Romane geben, lassen sich damit kaum verbinden. So haben sich vielleicht auch Schriftsteller hierzulande nicht besonders für dieses Genre interessiert.

Sind Die Unscheinbaren für Sie mehr Familien- oder eher Spionageroman?
Für mich zeigt der Roman vor allem, was die Agententätigkeit mit der Familie macht und mit welchen lächerlichen Kleinigkeiten sich erwachsene Menschen im Kalten Krieg in Geheimdiensten beschäftigt haben. Das gilt weniger für das Ehepaar selbst, das sich als Agenten anwerben lässt, als für all die anderen in der DDR und in der Bundesrepublik, die in irgendeiner Weise dienstlich damit befasst sind.

Es ist ein Verdienst des Romans, jegliche Agenten-Romantik oder Elemente eines Thrillers, der solche Tätigkeiten letztlich als "cool" darstellen würde, vermieden zu haben. Ob Spionage und deren Bekämpfung im Kalten Krieg jemals irgend einen Nutzen für die beteiligten Länder und vor allem für in ihnen lebenden Menschen gebracht hat, kann man sich nach der Lektüre des Buches kaum mehr vorstellen. Der Roman versucht, diese ernüchternde Sicht ein wenig zu relativieren, wenn er andeutet, dass Agententätigkeit in späterer Zeit auch der Terrorismusabwehr galt und gilt.

Hat das Buch für Sie ästhetische Bezüge zu anderen Romanen?
Zwar bin ich kein Experte für zeitgenössische Literatur, aber mir scheint, dass das Buch allgemein bekannte Spionageromane (bzw. -filme) als Kontrastfolie heranzieht, um deutlich zu machen, dass es hier um etwas ganz anderes geht. Besonders aufgefallen sind mir einmal die ironischen Anspielungen auf James Bond, der sicher für viele Leser oder Kinogänger das Bild eines Geheimagenten geprägt hat. Dieses Bild wird mit dem Roman humorvoll zur Seite geschoben, da die Agenten, von denen hier die Rede ist, so ziemlich das Gegenteil eines James-Bond-Lebens führen oder als Menschen und Charaktere auch nur entfernt an ihn erinnern – siehe zum Beispiel das Kapitel 007 jätet Unkraut.

Zum anderen denke ich an eine Stelle, wo ein pensionierter Mitarbeiter des BND überlegt, einen Roman im Stile von John le Carré zu schreiben, etwas wie Der ewige Gärtner. Obwohl es in dem Roman nicht mehr um den Kalten Krieg geht, sondern um das Engagement für Flüchtlinge und den Kampf gegen Machenschaften von Pharma-Konzernen, wird doch deutlich, dass Die Unscheinbaren auch mit solchen "Vorbildern" wenig zu tun hat und haben will. Es geht offenbar nicht darum, eine packende, an exotischen Orten spielende Handlung mit hohem moralischen Pathos zu präsentieren, sondern eine ganz andere, weniger glamouröse, aber durchaus auch spannende Geschichte über den Sinn und Unsinn von Agententätigkeit sowie deren "Kollateralschäden" für einzelne betroffene Menschen zu erzählen.

Hendrik Duryn, Schauspieler ("Der Lehrer") und langjähriger Freund des Autors

Als Freund des Autors – wie haben Sie seine Arbeit an dem Roman erlebt?
Für Dirk gibt es kein Tabu. Er ist erbarmungslos sich selbst gegenüber, wenn er in die Recherche geht. Er ist kompromisslos, wenn es um die Wahrheit seiner Figuren geht und er ist schonungslos, wenn es ums Weglassen überflüssiger Floskeln und Nettigkeiten geht. Wenn er beschreibt, dann ist kein Detail vor ihm sicher. Die Wahl seiner Worte erscheint mir "handverlesen". Seine Art zu schreiben, sein Stil ist für mich als Leser jedesmal eine Herausforderung, der ich mich unbedingt stellen will.

Was hat Ihnen an der Geschichte besonders gefallen?
Die Mutter-Sohn-Beziehung. Vor allem aber die Entdeckung, dass Spionage in ihrem Grundsatz und ihrem Charakter nach zerstörerisch ist. Spionage erzeugt Lügen und provoziert Lügen. Und das insbesondere den einzelnen und seine Familie betreffend. "James Bond" macht diese Art der Zerstörung salonfähig.

Mir gefällt, dass dieser Roman das Reißerische und Verruchte, das Besondere und das Telegene der Spionagewelt ad absurdum führt und sehr unterhaltsam aber schmerzvoll klar macht, dass Spionage nicht nur dem Grundsatz "Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten" widerspricht, sondern diesen Grundsatz als einen bigotten frommen Wunsch enttarnt.

Das Besondere an diesem Roman ist, dass er sehr beeindruckend beschreibt, was aus Kindern wird, die in einer familiären Situation aufwachsen, die von Geheimnissen und Lügen bestimmt wird.

Sie als "TV-Lehrer der Nation" – sollten Kids das lesen?
Für Kids mag das zu früh sein. Die Protagonisten des Romans sind für die Teenager zu alt. Für die aber, die aus dem Ei der Pubertät geschlüpft sind empfiehlt sich dieser Roman aufs Beste. Detaillierte deutsche Familien-Geschichte unterhaltsam und eindringlich erzählt.

Franz-M. Günther, Gründer Deutsches Spionagemuseum

Zwei Kapitel des Romans spielen in Ihrem Haus – was halten Sie davon?
Das ehrt uns natürlich sehr! Und es zeigt an, dass das Deutsche Spionagemuseum auch ein Ansprechpartner für Zeitgeschichte und seine Aufarbeitung ist.

In Ihrer Ankündigung bezeichnen Sie Die Unscheinbaren als "Spionageroman" – ist es nicht eher ein Familienroman?
Hm, ja, hm, nein … Der Text ist eine gut gebaute und verzahnte Wechselgeschichte zwischen einer deutschen Familie in der DDR, den verfeindeten Gesellschaftssystemen in der heißesten Phase des Kalten Krieges und dem wichtigsten Rohstoff für Geheimdienste – der Information.

Der Protagonist Martin durchläuft auf seiner Suche nach Wahrheit aus unterschiedlichen Perspektiven die Schattenwelt der Spionage. Er sucht Informationen – und wird somit selbst zum Spion in seiner eigenen Familienhistorie.

Interessant finde ich auch, dass Brauns hier einen Typus von Informanten beschreibt, die sich als Überzeugungstäter einem gegnerischen Geheimdienst angeboten haben.

Das Museum ist auch eine Art Datenbank, eine Anlaufstelle für Nachrichtendienstler – was, glauben Sie, können Angehörige der Dienste heute diesem Roman entnehmen?
Nachrichtendienste heute erfahren sicherlich wenig Neues über die Techniken und Strategien eines aufgearbeiteten, toten und brutalen Geheimdienstes wie der Stasi.

Was hier auf eindrucksvolle- und tragische Weise ein facettenreiches Gesicht bekommt, das ist der Mensch und der Faktor Mensch im Getriebe der Geheimdienste.

Der Roman zeichnet erschütternd und aus erster Quelle das Schicksal einer Familie, die sich auf das Spiel und seine nicht abschätzbaren Folgen geheimdienstlicher Arbeit einlassen. Sicherlich ist die Verantwortung der Geheimdienste seinen Informanten gegenüber nicht hoch genug zu hängen. Doch wer nach Moral in diesem Gewerbe sucht, geht leer aus.

Wer ist wer ...

... in Die Unscheinbaren?

Das geteilte Berlin

Schauplatz des Romans

Lesung in der BND-Zentrale

Dr. Rainer Brauns, BND-Chefhistoriker Bodo Hechelhammer und Dirk Brauns stellten den Roman am 19. September 2019 in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in Berlin vor.