Frank Vorpahl über sein Buch "Aufbruch im Licht der Sterne"
Ohne sie wäre kein Europäer lebend zurückgekommen: Frank Vorpahl rekonstruiert die elementare Bedeutung der drei Polynesier Tupaia, Maheine und Mai für die bis heute legendären Entdeckungsreisen von James Cook
James Cook gilt als einer der größten Entdecker der Geschichte. Doch seine Reisen durch die Südsee wären ohne die Hilfe der Indigenen gar nicht möglich gewesen. Frank Vorpahl rückt mit einer lange überfälligen Würdigung der drei Polynesier Tupaia, Maheine und Mai das kurzsichtige koloniale Bild der Cook’schen Entdeckungsreisen zurecht. Mehr noch: Vorpahl stellt das Auftauchen und das Agieren der europäischen Entdecker aus der Sicht der Polynesier dar und erschließt uns so eine Welt, in der Cook und seine Männer sich bewegten, von der sie aber nicht sehr viel verstanden.
Im Interview spricht Vorpahl über die Idee zu seinem Buch und die intensive und langjährige Recherche dafür.
Frank Vorpahl, wie sind Sie darauf gestoßen, dass zum heldenhaften Bild des großen Entdeckers James Cook noch viel mehr gehört – nämlich die bislang weitgehend unbekannte Geschichte seiner indigenen Helfer?
Tupaia, Maheine und Mai tauchen immer mal wieder in Cooks Journal und den Aufzeichnungen seiner Reisebegleiter auf – doch eher sporadisch. Irgendwann aber drängte sich die Frage auf: Wären Cook und seine Crew, wären die Europäer auf sich allein gestellt gescheitert? Um ein Beispiel zu nennen: Als Cook 1869 auf seiner ersten Weltreise den Pazifik „entdeckt“, hat er einen riesigen unbekannten Ozean vor sich, den die polynesischen Bewohner „das große Inselmeer“ nennen. Es gibt hier unendlich viele Untiefen, Atolle, Korallenbänke, also höchst gefährliche Gewässer auf gigantischer Fläche – aber vor Cook gab es ja noch keine exakten europäischen Karten, er segelt ins Blaue hinein. Und da ist es dann Tupaia, der mit dieser See absolut vertraute polynesische Seefahrer, der die Briten über tausende Meilen durch diese schwierigen Breiten navigiert. Bei Cooks Ankunft in Neuseeland spricht dieser Tupaia dann dieselbe Sprache wie die einheimischen Maori und wird von ihnen bald als heiliger Mann verehrt. Noch einmal Glück für Cook, denn bis dahin hatten die Maori noch jeden weißen Seemann in seinem Boot erschlagen, bevor er Neuseeland betreten konnte. Tupaia erwies sich also als universeller Wegweiser, Beschützer und Vermittler.
Bei der Lektüre Ihres Buches hat man mitunter das Gefühl, man stehe mit an Deck der Endeavour oder am Strand von Tahiti. Welche Quellen haben Sie genutzt, um die Ereignisse so anschaulich nacherzählen zu können?
Viele historische Schauplätze der Cook’schen Weltreisen sind trotz der vergangenen 250 Jahre noch heute erhalten. Und in 30 Jahren Schreiben, Filmen und Kuratieren von Ausstellungen auf den Spuren Captain Cooks habe ich an den meisten dieser Orte im Pazifik irgendwann einmal gestanden. Als Filmemacher ist man dann – zum Glück – schon aus professionellen Gründen gezwungen, genauer hinzuschauen. Doch sieht man bei jeder Annäherung Neues. In Aufbruch im Licht der Sterne rückt jetzt zum Beispiel die Insel Raiatea stärker in meinen Fokus. Jahrelang blieb mir die verschlafene Insel unweit von Tahiti vor allem als Historiker im Hinterkopf, weil hier der deutsche Naturgelehrte Johann Reinhold Forster 1774 Captain Cook zum Duell forderte – und die beiden führenden Leute der zweiten Cook’schen Weltumsegelung tatsächlich drauf und dran waren, einander totzuschießen. Vermutlich wäre die Entdeckungsgeschichte des Pazifik dann anders verlaufen.
Jetzt hat die Insel Raiatea für mich aber eine andere Bedeutung: Sie war vor 250 Jahren der Dreh- und Angelpunkt der polynesischen Welt, ein Mekka der pazifischen Navigation, aber auch das heiligste spirituelle Zentrum Ozeaniens. Irgendwann habe ich verstanden, dass sich die Lebenswege meiner drei indigenen Helden nicht ganz zufällig genau hier kreuzten. Aber auch, dass Captain Cook nicht zufälligerweise Männer von Raiatea als Wegweiser für seine Expeditionen anheuerte. Ein Schluss, der sich aus den Reiseberichten sowohl der Europäer, die die Forschung zusammengetragen hat, als auch den viel spärlicheren tahitischen Quellen ergibt, sobald man die unendlich zersplitterten Überlieferungen zusammenfügt. Was im übrigen großen Spaß gemacht hat.
"Irgendwann aber drängte sich die Frage auf: Wären Cook und seine Crew, wären die Europäer auf sich allein gestellt gescheitert?"
Was waren aus Ihrer Sicht die Gründe für einen Mann wie Tupaia – immerhin Chefberater der Herrscher Tahitis –, sich der Cook'schen Expedition anzuschließen und damit auch ein unkalkulierbares Risiko einzugehen?
Georg Forster, der geniale deutsche Naturgelehrte auf Captain Cooks zweiter Weltumsegelung und spätere Begründer der ersten deutschen Republik in Mainz, hielt es ja für eine der wichtigsten Erkenntnisse der Cook’schen Expeditionen, dass die Natur des Menschen überall auf der Welt „spezifisch dieselbe“ sei. Heißt: So wie die Briten mit der „Entdeckung“ des Pazifik ihr machtpolitisches, nämlich koloniales Kalkül verfolgten, entwickelten auch die Menschen der Südsee ihre eigene Agenda, als die „Fremdlinge“ aus England sich gewaltsam an ihrer Küste festsetzten. Ein scharfsichtiger Mann wie Tupaia erkannte sehr schnell, dass die Kanonen der Briten den Keulen der Polynesier überlegen waren. Als oberster Ratgeber der mächtigsten Herrscherfamilie auf Tahiti musste er nun entscheiden, wie man mit dieser Zeitenwende in Polynesien umgehen soll. Als gewiefter Taktiker rang er sich dazu durch, die Fremdlinge nicht selbstmörderisch zu bekämpfen, sondern sie zu umgarnen und, samt ihrer enormen Feuerkraft, zu instrumentalisieren. Da ihm das auf Tahiti aber nicht ganz gelang, war Tupaia schließlich bereit, mit an Bord von Captain Cooks Schiff zu gehen, um mit Hilfe der Briten seine Heimatinsel Raiatea von Okkupanten der Nachbarinsel Bora-Bora zu befreien. Im Notfall wäre er sogar ins ferne England mitgereist, um Waffen zur Befreiung seiner Heimat zu akquirieren. Dieses Befreiungs-Motiv ist unter den Männern Raiateas sehr stark. So stark, dass auf Cooks zweiter Expedition erneut ein Mann aus Raiatea, nämlich Mai, in Richtung London aufbricht.
Der Polynesier Mai blieb dann für ein paar Jahre in London. Wie muss man sich sein Leben in dieser für ihn völlig fremden Welt vorstellen?
Mit einem Wort: splendid. Schillernd, glänzend in jeder Hinsicht, also auch blendend im tragischen Sinne. Sir Joseph Banks, Captain Cooks reicher naturwissenschaftlicher Begleiter auf der ersten Weltreise, wollte immer einen lebendigen Polynesier als „Kuriosität“ in den Londoner Salons und den Schlössern des Hochadels präsentieren, um seine noblen Bekannten mit ihren Löwen aus Afrika zu übertrumpfen. Im Falle Tupaias kam Banks der tödliche Skorbut in die Quere, doch dann brachte Captain Cook Mai mit nach England. Und der sah sich mit den enormen Verführungen der Hauptstadt des Empires konfrontiert. Nicht nur der König, auch die Damen waren entzückt, die großen Maler drängten sich um Mai, zudem triumphierte der „edle Wilde“ im Schach, beim Kartenspiel, auf der Rennbahn. In all dem Luxus und Trubel ging Mais ursprünglicher Plan, Waffen zur Befreiung Raiateas zu beschaffen, fast unter. Doch irgendwann machte sich die feine englische Gesellschaft ihre rassistischen Gedanken darüber, ob der junge Mann mit der dunklen Haut für blasse Damen nicht doch zu riskant werden könnte. Also musste Captain Cook den „Liebling der Saison“ zurück in den fernen Pazifik expedieren. Nur war Mai inzwischen ein anderer geworden.
Vielen Menschen dürfte gar nicht bewusst sein, was für brillante Seefahrer die Polynesier schon lange vor der ersten Begegnung mit Europäern gewesen sind. Jahrhunderte vor Cook legten polynesische Seefahrer auf ihren Übersee-Kanus, die mit den massigen europäischen Schiffen wenig gemein hatten, tausende Kilometer auf dem Ozean zurück. Wären Sie da gerne einmal mitgefahren?
Ich bin natürlich auf einem Nachbau von Cooks erstem Expeditions-Schiff, der Endeavour Replica, mit gesegelt. Und dachte bei aller Neugier: Zum Glück gibt es heute Reisetabletten! Die großen Übersee-Kanus der Polynesier waren um einiges schneller als die britischen Schiffe und ich weiß nicht, wie sich die Schaukel-Frequenz von Ausleger-Booten bei kräftiger Brise auf den Magen auswirkt. Aber sei’s drum: Das Navigieren vor dem nächtlichen Sternenmeer im Pazifik, dieser Aufbruch im Licht der Sterne, muss schon absolut faszinierend gewesen sein. Und ich liebe Brotfrüchte in jeder Form, von denen die Polynesier immer reichlich an Bord hatten.
Zur Leseprobe aus Aufbruch im Licht der Sterne
Frank Vorpahl ist promovierter Historiker, Autor, Kurator, Filmemacher und Chef vom Dienst bei Aspekte (ZDF). Seit vielen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Georg Forster sowie James Cooks Südsee-Expeditionen. Im Zuge seiner intensiven Recherchen war er oft in der Südsee und kuratierte Ozeanien-Ausstellungen in Deutschland und Tonga. 2007 initiierte er die illustrierte Neuausgabe von Georg Forsters Reise um die Welt in der ANDEREN BIBLIOTHEK. 2018 veröffentlichte er Der Welterkunder. Auf der Suche nach Georg Forster. Außerdem erschien von ihm Schliemann und das Gold von Troja (2021).
Bild 1: Der Marae Taputapuātea an der Ostküste Ra’iāteas – heute eine UNESCO-Welterbestätte – mit dem weißen Stein zur Investitur junger Oberherrscher: Der Dreh- und Angelpunkt des religiösen Universums Polynesiens wurde für Tupaia zum Ausbildungsort als Hohepriester und Navigator.
Bild 2: Die Bucht von Hamaneno an der Südwestküste Ra’iāteas: Der Geburtsort Tupaias war einst für seine geschickten Kanubauer bekannt und wurde für James Cook zum bevorzugten Hafen auf seinen drei Weltreisen.
Bild 3: Der Nachbau eines pahi aus Taputapuātea, wie es der Priester-Navigator Tupaia steuerte: Diese Replik, von einer Bootsbauer-Equipe aus Ra’iātea um John Rere nach zwei technischen Zeichnungen gestaltet, die Herman Diedrich Spöring auf der ersten Cook’schen Weltumsegelung im Juli 1769 angefertigt hatte, wurde im Juni 2022 im Zentrum der tahitischen Hauptstadt Pape’ete auf der Place Tu Marama aufgestellt.