Asta Nielsen: Im Paradies

Asta Nielsen mit Hut

Liebe Leser:innen, 

wahrscheinlich werden Sie sich genauso wundern wie wir, wenn Sie das Buch Im Paradies lesen und merken, dass auf Seite 30 die gleichnamige Erzählung endet, aber dann etwas zusammenhanglos ein weiteres Textstück nachfolgt. Eines, das trotz seiner Rätselhaftigkeit irgendwie spannend klingt. 

Es gehört zu einer anderen Geschichte von Asta Nielsen, die ursprünglich auch im Buch enthalten sein sollte, aber von anderen verdrängt wurde. Für diesen Fehler möchten wir uns entschuldigen. 

Doch es soll Ihr Schaden nicht sein: Da Eine Geige und ein seltsames Paar, so der Titel, offenbar so sehr darauf drängt, gelesen zu werden, haben wir sie jetzt als Ganzes hier online gestellt. Auf diese Weise bekommen Sie eine Asta-Nielsen-Geschichte mehr! 

Mit freundlichem Gruß

Das Team von Galiani Berlin

Leseprobe

Eine Geige und ein seltsames Paar

ASTA NIELSEN

Eine Geige und ein seltsames Paar

Einzig und allein aus Mitleid mit Eva hatte ich mich entschlossen, an der Sommerreise in die österreichischen Alpen teilzunehmen. Sie war die Einzige in unserem Kreis, die sich nicht mit Kunst beschäftigte. Dafür war sie aber eine vorzügliche Hausfrau und vollauf damit ausgelastet, ihren Mann, den Geiger Polgar, zu bedienen und zu verwöhnen. Sie waren gerade ein Jahr verheiratet, und sie liebte ihn abgöttisch.

Da es ihr bisher nie gelungen war, Polgar dazu zu bewegen, die eigenen vier Wände zu verlassen, war auch sie stets pausenlos zu Hause gefangen und überdies dazu gezwungen, sich sein unentwegtes Gefiedel anzuhören. Also freute sie sich sehr über den Vorschlag des Kunstmalers Hermann, einem Freund des Hauses, mit ihm in die Alpen zu reisen, wo er die Absicht hatte, mit Staffelei und Malerkasten bewaffnet, in den Bergen herum zu klettern. Da Polgar aber natürlich nicht ohne Geige auf Reisen gehen würde, wäre es Evas unentrinnbares Schicksal gewesen, alleine in den Bergen herum zu irren, und so hatte ich versprochen mitzufahren.

Eva freute sich hektisch auf diese Reise. Sie war der energische Typ, der alles von Anfang an regelt, weshalb sie sich selbst und ihren geliebten Polgar während eines Aufenthaltes in München mit einer perfekten Tiroler Tracht ausstaffierte. Zum Glück sah ich das Resultat ihrer Bemühungen erst nach unserer Ankunft in den Bergen, sonst hätte ich, glaube ich, die Weiterreise verweigert.

Evas Junogestalt kam in dem gewaltigen Dirndlkostüm hervorragend zur Geltung, aber bei Polgars Anblick blieb mir die Spucke weg. Unter einer viel zu kurzen, krachledernen Hose kamen ein Paar schneeweiße fette Oberschenkel zum Vorschein, worunter Knie wie mittelgroße Weißkohlköpfe ruhten, umrahmt von dem grasgrünen Randbesatz der Kniestrümpfe. Sein wohlgenährtes Obergestell wurde von zwei Hosenträgern gehalten, die mit weißem Edelweiß und grünen Eichenblättern bestickt waren, auf seinem

stubenbleichenen Kopf balancierte ein viel zu kleiner grüner Filzhut mit einer enormen Quaste aus grauer Gänseflaumfeder, die sich selbst bei Windstille in einer Art Wahnsinnstanz wiegte.

Diese Ausstattung, die auch noch durch ein paar eisenbeschlagene Bergstiefel ergänzt wurde, kann nur mit der Unergründlichkeit des menschlichen Sexuallebens erklärt werden, denn Eva wusste haargenau, dass Polgar die Geige nur in den wenigen Stunden aus der Hand legen würde, in denen das Hotel Mittagsruhe forderte, es war also reine Utopie, dass er jemals den Ruf der schneebedeckten Berggipfel hören oder ihm gar folgten sollte.

Ängstlich sah ich dem Augenblick entgegen, in dem wir ihn während der ersten Mahlzeit auf der Hotelterrasse in seinem alpenländischen Aufzug vorführen mussten. Ich hatte aber nicht mit dem jahrelangen Training der Einheimischen in Bezug auf Touristen gerechnet. Tatsächlich nahm niemand von Polgar Notiz, und wir schlichen still und unbemerkt zu dem Tisch, der uns angewiesen wurde. Eine so großzügige Haltung findet man sonst nur an der Riviera. Es sollte sich aber bald herausstellen, dass sie sich in den Alpen ausschließlich auf nationalbetonte Kleidungsexzesse beschränkt. Denn plötzlich zogen einige Jünglinge alle Aufmerksamkeit auf sich, und ein unverhülltes Lachen begleitete ihre gravitätischen Schritte quer durch den Raum zu einem leeren Tisch, der dem unseren vis-à-vis stand. Die Jünglinge aber kümmerten sich um nichts und niemanden, nahmen ungeniert Platz an dem kleinen Tisch, blickten gänzlich uninteressiert auf die Menükarte und nickten. Für Stammgäste war dies ausreichend, das sah man daran, dass die Bedienung sofort in Angriff genommen wurde und wie am laufenden Band abrollte.

Der Ältere des Paares, er war wohl noch nicht ganz dreißig, war sehr lang und sehr dünn, trug sehr kurze hellblaue seidene Shorts und zeigte ein paar knorrige Beine, die in der Farbe eines prächtigen Kaiserhummers nackt in einem Paar sehr langer Wanderschuhe steckten. Dazu hatte er ein tadelloses offenes Seidenhemd gewählt und auf das flachsblonde Haar einen Strohhut mit dreifarbigem Band gesetzt. Etwas ähnliches hatte ich vorher nur auf den Köpfen einiger achtzigjähriger Engländer auf der Kurpromenade in Karlsbad gesehen, ergänzt durch einen großen schwarzen Regenschirm, der anscheinend in der Sommersonne als Spazierstock fungierte.

Sein Begleiter war kleiner, ein dunkler Typ und recht hübsch. Er trug lange weiße Hosen, ein kornblumenblaues Sakko, aß äußerst affektiert und starrte den Blonden unentwegt mit blauen naiv aufgesperrten Kinderaugen an. Sie sprachen kaum miteinander, aßen anscheinend ohne besonderen Appetit, nippten an einem Glas Wasser und verschwanden sofort nach der Mahlzeit, ohne nach rechts oder links zu schauen. Anschließend waren sie sich selbst genug.

Eines Tages teilte uns Polgar mit, nachdem wir gerade von einer Bergwanderung zurückgekommen waren, dass er mit den beiden Jünglingen Bekanntschaft geschlossen hatte. Polgar hatte sich in der vom Hotel angeordneten Musikpause in der Nähe des Hauses herumgedrückt, bis er die beiden traf. Sie hatten sich in unverfälschtem Wiener Dialekt vorgestellt und ihm damit geschmeichelt, täglich auf derselben Bank zu sitzen, um Polgars Geigenspiel bewundern zu können. Natürlich hatten sie damit sein Herz gewonnen und natürlich auch Evas Herz, und als Hermann erfuhr, dass sich die Herren auch für Malerei interessierten, war auch er voller Sympathie für die beiden.

Als sie sich, wie immer, zum Abendessen einfanden und den Kopf fast unmerklich in Richtung Polgar beugten, wurde ihr Gruß mit ungeschminkter Freundlichkeit erwidert, wobei Eva besonders wohlwollend lächelte. Nach dem Ende der Mahlzeit kamen sie zu uns herüber, stellten sich vor und baten um die Ehre unseres Besuches für den nächsten Tag. Da die anderen ihre Einladung zum Abendessen gerne annahmen, beugte ich mich der Majorität, und wir versprachen, pünktlich zu erscheinen. Später stellte sich heraus, dass keiner von uns die Namen der beiden verstanden hatte. Wir wussten von dem Jüngeren nur, dass er sich Honoré genannt hatte. Es wurde nie aufgeklärt, ob dies sein Vor- oder Familienname war, auch nicht, ob der Name einer Bewunderung für Balzac entsprungen war oder auf der soliden Grundlage einer Geburtsurkunde ruhte.

Hermann argwöhnte nicht ohne Bitterkeit, dass ihr Interesse für Musik und Malerei reine Verstellung wäre, und vermutete, dass sie lediglich mit der Filmwelt in Verbindung treten wollten. Eva dagegen war felsenfest von ihrer Leidenschaft für das Violinenspiel überzeugt, eine Einschätzung, der Polgar schweigend zustimmte.

Wir vereinbarten legere Kleidung und begaben uns am nächsten Tag ohne größere Umstände auf den Weg, der uns zu ihrer »Villa« führen sollte.

Honoré kam uns entgegen. Zur Feier des Tages war er in kirschrote Beinkleider gehüllt, ergänzt durch einen malerischen weißen Schal, der durch eine gewaltige Granatbrosche seitlich zusammengehalten wurde. Das Haus sah erheblich weniger originell aus als die Besitzer, eigentlich handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Holzhaus billigster Sorte mit einem kleinen, in der Sonne vertrocknenden Rasenstück davor und direkt an der Landstraße gelegen.

Während wir eintraten, schritt uns Gastgeber Nummer zwei entgegen. Er trug einen hellblauen Seidenpyjama, eine Schärpe aus Goldlamee und rote Saffianschuhe. Mit herablassender Freundlichkeit reichte er uns eine knochige Hand und bedankte sich für die Ehre, die wir seinem Haus erwiesen, in einem so wenig überzeugenden Ton, dass ich ihn augenblicklich als sehr wohlhabend einschätzte. Eine so gönnerhafte und selbstbewusste Attitüde habe ich nur bei Leuten mit sehr viel Geld gesehen. Auch die Tatsache, dass das Haus äußerst einfach, fast ärmlich eingerichtet war, schien auf den hochmütigen Reichtum zu deuten – es konnte sich aber natürlich auch um das Gegenteil handeln. Honoré verschwand umgehend, woraufhin der Lange vorschlug, dass wir uns mit den Lokalitäten des Hauses vertraut machen sollten. Er führte uns in Richtung zu einer Tür, zwang uns aber unterwegs, vor einer Wand haltzumachen, die mit einem riesigen Bild bedeckt war. Er ließ uns ein Kunstwerk bestaunen, das so dilettantisch und in so hässlichen Farben gemalt war, dass man absolut nichts erkennen konnte. Polgar sandte an Hermann einen vielsagenden Blick, und Eva puffte mich in die Seite, während ich einen Hustenanfall vortäuschen musste. Als wir dann die Signatur »Honoré« entdeckten, verstummten wir in verzweifelter Qual.

Es ging also doch um Malerei, weder um Film noch um Geige, und Hermann betrachtete verzweifelt den Rahmen, um nur irgendetwas zu tun, während Polgar stumpfsinnig seine Bewegungen verfolgte. Schließlich strich unser Gastgeber unendlich zärtlich über das Bild und sagte: »Picasso und van Gogh wurden anfangs auch von niemandem verstanden.«

»So war es!« stotterte Polgar erleichtert, dass das Stillschweigen gebrochen war. »Und Mozart starb bettelarm.«

»Non omnia possumus omnes«, äußerte der Lange und sah den gutmütigen Polgar bedeutungsvoll an, der mit einem schlichten »ach ja« antwortete, weil er nichts verstand.

Daraufhin öffnete unser Orakel die Tür, kletterte über eine schmale Treppe in den ersten Stock, mit uns als verständnislosem Haufen im Schlepptau. Unter dem Dach öffnete er eine weitere schmale Tür zu einer länglichen Kammer unter einem schrägen Dach. In der Dunkelheit fielen wir über einige Holzstühle und konnten kaum atmen in der stickigen Luft. Hilfesuchend klammerten wir uns aneinander. Dann erkannten wir mühsam im Halbdunkel eine Liege am anderen Ende des Zimmers, während unsere Gastgeber sich anschickten, einige Kerzen auf einem altarähnlichen Möbel anzuzünden, welches mit einer gestickten Tischdecke bedeckt war. Zwischen den Leuchtern lag ein sehr großes Buch, vielleicht war es die Bibel. Im Kerzenschimmer bemerkten wir dann eine riesige Fotografie von Honoré über dem Altar und darum herum einige andere Bilder: Christus, Nietzsche auf dem Totenbett, einige Lithographien von Goethe und von Beethovens Totenmaske und so weiter. Wir starrten verblüfft auf dieses Wahnsinnsarrangement.

»Total meschugge«, flüsterte mir Polgar ins Ohr, während unser Gastgeber auf die Couch sank und wir anderen uns auf die Holzstühle verteilten.

»Dies«, sagte der Blonde, »ist unser Allerheiligstes.« Mit einer müden Handbewegung wies er auf die Bilder: »In dieser Gesellschaft fühlen wir uns im Einklang mit unserem innersten Ich.«

Er sank in seinem Pyjama zusammen und starrte stumpf auf Honorés Foto. Wir schwankten zwischen lautem Gelächter und einem Gefühl des Mitleids für den Verrückten. Polgars runde Knie leuchteten wie weiße Kanonenkugeln direkt vor mir aus der Dunkelheit und erinnerten mich tröstend daran, dass es auch ein Leben außerhalb dieser düsteren Atmosphäre gab. Doch da die Zeit des Abendessens bereits überschritten war und ich Polgars Wolfshunger kannte, fürchtete ich bereits in Gedanken, das das Abendessen vielleicht unter ganz speziellen Zeremonien oder in Oblatenform eingenommen werden sollte.

»Nicht wahr«, sagte unser Gastgeber, während wir weiter auf Goethe und den sterbenden Nietzsche, aber besonders auf das alles überschattende Mittelbild von Honoré starrten, »auch Sie spüren die lockende Macht des Genius. Das Göttliche zieht eben alles Lebende an sich.«

Wir saßen stumm, man hätte in der Stille die Sandkörner durch ein Stundenglas laufen hören können. Doch dann wurde die Stille plötzlich durch ein dumpfes Knurren unterbrochen, das ohne Zweifel aus hungernden Mägen kam.

»Das war Hermann«, flüsterte Polgar mir ins Ohr. »Wäre es Eva gewesen, hätten wir Moll gehört.«

Das Geräusch wiederholte sich.

Wieder folgte Polgars Musikerohr der Tonskala: »Contra C«, flüsterte er, dann »G-Dur, fis-Moll.« Nach einem langen pfeifenden Ton ergänzte er: »Vierschichtiges G.«

Und dann erhob er sich energisch, wir anderen folgten ihm, während unser Gastgeber uns verständnislos ansah und schließlich die Kerzen löschte. Wir kletterten die Treppe wieder hinunter und berieten flüsternd, wie wir hier verschwinden könnten. Aber o weh! Im Erdgeschoß wurden wir von dem häuslich echauffierten Honoré empfangen, der uns zu Tisch bat und langatmige Entschuldigungen äußerte, dass man nur ein kaltes Buffet anbot. Uns war alles egal. Hungrig und erfreut erkannten wir die kalten Spezialitäten des Hotels. Also legten wir los. Der Lange goss im Schneckentempo einen vorzüglichen Rheinwein in die Gläser, und dieser brachte uns wieder zurück ins Leben. Während unsere Gastgeber aber nur in kleinen Schlückchen tranken, legte Polgar alle Hemmungen ab und füllte sein Glas so häufig nach, dass ihm Eva unter dem Tisch auf den Fuß trat.

Gleichzeitig erfuhren wir, dass unser Gastgeber Fyll hieß oder so genannt wurde und Dichter war. Mit dieser Auskunft bestritt Honoré die gesamte Unterhaltung, denn Fyll hüllte sich in eiskaltes Schweigen. Als wir beim Obst angelangt waren, entschwanden die beiden. Uns aber hatten Geflügel, Krabbensalat und Wein den Glauben an das Leben zurückgegeben.

So nahmen wir heiter Platz in den Korbstühlen des Aufenthaltsraumes, während Honoré Kaffee servierte. Doch plötzlich verstummte jedes Gespräch. Fyll trat wieder auf, nun in einen schwarzen seidenen Pyjama mit silberner Schärpe samt grünen Pailletten gekleidet, an den Füßen mit schwarzen Lackhausschuhen. Mit einer Langsamkeit, die an Zeitlupenaufnahmen erinnert, nahm er in unserer Mitte Platz, empfing von Honoré mit gnädiger Miene eine Kaffeetasse und bot uns Zigaretten an, während er versicherte, dass er selbst aus ästhetischen Gründen nicht rauche. Dieser Hinweis war aber an uns verschwendet, denn Hermann zündete sich gerade eine mitgebrachte riesige Zigarre an.

Wieder hüllte uns Schweigen ein, eine unangenehme, an feuchte Kriechtiere erinnernde Atmosphäre ging von dem lächerlich ausgestatteten Fyll aus. Endlich stellte er seine Tasse ab, lehnte sich in seinem Sessel zurück und sagte, ohne uns direkt anzusehen: »Nachdem wir uns nun kennengelernt haben, möchte ich Ihnen die Wahrheit sagen. Wir haben dieses kleine Treffen arrangiert, weil Honoré ein Bild, was sage ich, ein Meisterwerk schaffen soll – mit Ihnen als Modell.«

Dabei blickte er mit seinen Fischaugen auf Polgar, der niemals in seinem Leben daran gedacht hatte, Modell zu stehen, und unter unseren angespannten Blicken wie eine Jungfrau errötete.

Ich hatte den Eindruck, dass Eva sich geehrt fühlte und einverstanden war.

»Ich glaube aber nicht…«, stotterte Polgar.

»Bitte lass Herrn Fyll aussprechen«, hielt ihn Eva zurück, die ihren Abgott bereits auf einer riesigen Leinwand erblickte.

»Honoré«, fuhr Fyll fort, »empfing die Idee durch Ihr Geigenspiel.«

Eva nickte beeindruckt.

»Oder hatte ich die Idee? Aber das ist gleichgültig, denn ich bin ja kein Maler. Nur Honoré kann sie realisieren. Die Komposition ist als Symphonie gedacht, natürlich nicht in den banalen Tempi, nein, als Furioso«, setzte er seine Rede fort. »Das Werk soll symbolhaft ausdrücken, wie die Musik und der Künstler mit den Tönen kämpfen.«

Er zeigte auf das Gemälde neben der Tür, welches wir wieder verständnislos betrachteten.

»Ich sehe, dass keiner von Ihnen dieses Bild erkennt, nicht einmal Sie!« Er sog den Rauch umhüllten Hermann eiskalt an.

»Es stellt eine Landschaft dar?« sagte Eva furchtsam.

»Oder einen Bergrutsch?« versuchte ich es.

Fyll lächelte unsagbar nachsichtig. »Es ist Honorés selige Mutter«, sagte er und blickte weiter in Bewunderung auf das Bild.

Bei dieser Auskunft entgleisten unsere Gesichtszüge. Wir waren einiges gewohnt, wenn es um moderne Kunst ging, aber in der Regel kann man doch hier oder da ein schwebendes Auge entdecken, ein paar abgerissene Finger oder andere Körperteile, sobald es um ein menschliches Wesen geht. Hier aber gab es nichts zu sehen, was an ein lebendes Wesen auf diesem Planeten erinnerte.

In seiner grenzenlosen Liebenswürdigkeit fragte Polgar, um Fyll und Honoré zu erfreuen: »Darf ich fragen, ob Ihre Frau Mutter damals bereits tot war?«

»Aber natürlich!« rief Eva erleichtert und dachte, sie hätte das Rätsel gelöst. »Sie liegt beerdigt unter dem Hünengrab dort im Vordergrund.«

Hier musste Hermann laut lachen, was Fyll aber nicht störte.

»Sie haben recht«, sagte er, »es ist zum Lachen oder auch zum Weinen, wie wenig die Menschen von der Malerei verstehen. Gerade mit diesem Bild hat Honoré die Kraft und die Blüte seiner Mutter symbolisiert. Jeder erkennt die gewaltige Vitalität, das Violette. Alle Hoffnungen, die …«, er unterbrach sich. »Wir wollen das Thema ruhen lassen. Ich sehe, dass es hoffnungslos ist.«

Und darin hatte er mehr als recht, denn etwas Dümmeres als unsere Gesichter hat man vermutlich selten gesehen.

»Wir wollen zum Thema zurückkehren«, dabei sah Fyll Polgar an. »Wir haben uns gedacht, dass sie nackt vor dem Haus gemalt werden.«

»Nackt!« rief Polgar. »Und vor dem Haus!«

»Wir werden uns nicht um die Vorübergehenden kümmern. Entweder verstehen sie etwas von Kunst, oder sie tun es nicht. Es ist total uninteressant. Wie gesagt: Sie stehen nackt vor dem Haus und spielen auf Ihrer Geige.«

Diese Form der Verewigung ihres Polgar kam Eva nun sehr überraschend und abstoßend vor. »So etwas wirst du dich hoffentlich nicht machen?« wandte sie sich an ihn.

»Nun«, sagte Polgar, »als Nacktmodell eigne ich mich wohl nicht so richtig.«

»Natürlich nicht«, sagte Fyll,, »dazu sind Sie, weiß Gott, zu schwabbelig.«

Evas Korbstuhl knarrte.

»Honoré wird Sie so malen, dass Ihr Körper nicht zu erkennen ist.«

»Und warum muss er nackt sein?« ereiferte sich Eva. Denn das Wort schwabbelig stand in Leuchtschrift vor ihrem inneren Auge.
»Weil Kleider in einer Allegorie, wie wir sie uns ausgedacht haben, auf Honorés Phantasie tödlich wirken würden. Das wirklich Wichtige ist die Geige und der Kampf der Hände mit den Saiten.«

Er warf einen Blick auf Polgars Hände, die in ihrer kindlichen Molligkeit auf den Kohlköpfen ruhten.

»Gewiss, für dieses Bild kann man nicht Ihre eigenen Hände verwenden, sie eignen sich nicht zur Abstraktion. Dazu sind sie zu klotzig, zu materialistisch.«

Evas Korbstuhl war wieder hörbar.

»Nein, wir werden meine Hände nehmen, deren außergewöhnliche Ausdruckskraft Sie sicher bereits bemerkt haben.« Er griff ein paarmal in die Luft, als wolle er einen Geigenhals umkrampfen. Polgar begann laut zu lachen wie jemand, der plötzlich etwas außerordentlich Komisches sieht.

Fyll überhörte es elegant und setzte seine Gedankenwanderung über die Kunst fort: »Überall im Bild werden Geigen zu sehen sein, unten, oben, in der Mitte, deshalb müssen Sie abwechselnd aufrecht stehen, auf einer Kiste sitzen oder kniend spielen.«

»Darf ich fragen«, sagte Polgar, der sich nun ganz ungehemmt amüsierte, »muss ich auch im Liegen spielen?«

»Selbstverständlich. Es geht ja gerade um die Musik, das Ganze dreht sich nur um die Töne.«

»Und mein Kopf wird in den verschiedenen Stellungen gemalt werden, die ich einzunehmen habe?«

»Ihr Kopf«, Fyll unterbrach sich und sah aus, als hätte man ihn mit einer Keule geschlagen. »Glauben Sie denn allen Ernstes, dass man diesen Kopf überhaupt malen kann? Ihr Kopf ist zu rund, die Züge sind zu verschwommen, besser gesagt, zu nichtssagend.«

An dieser Stelle erhob sich Eva in ihrem imposanten Dirndlkostüm.

»Nein. Honoré ist klug genug, den Kopf zu bedecken, vielleicht wird es gar keinen Kopf geben.«

»Ach so«, schnaubte Eva.

»Einen solchen Kopf kann ein Künstler nur zu einer Abstraktion umformen.«

»Einer Abstraktion? Was für eine Abstraktion?« schnaufte Eva und schob ihren Busen kampfbereit über den Samtspenzer.

»Liebe gnädige Frau«, fuhr Fyll ruhig fort, »verstehen Sie denn gar nichts von Kunst? Auch nicht von der Kunst Ihres Gatten oder der Kunst Ihrer Freundin?« Und damit zeigte er auf mich.

»Natürlich versteht sie etwas davon«, sagte Polgar, um seiner Frau zu Hilfe zu eilen, »wir können uns aber nur schwer vorstellen, wie Asta Nielsens künstlerische Wirkung zum Ausdruck kommen sollte, wenn man ihr Kopf und Körper abtrennen würde.«

»Ich muss feststellen«, Fyll blickte nun Polgar direkt ins Gesicht, »dass auch Sie nichts, überhaupt nichts verstanden haben. Sie sollen nichts ausdrücken. Honoré ist es, der etwas ausdrücken soll. Und in diesem Zusammenhang sind Sie eine vollkommen unbedeutende Person.«

»So, meinen Sie«, Eva stemmte die Hände in die Seiten. »Wir unbedeutenden Personen werden Sie jetzt augenblicklich verlassen. Sie sind zwei lächerliche Dilettanten, die die Frechheit hatten, uns einzuladen und mit Ihrem Blödsinn zu langweilen. Wir werden es nicht verhindern können, falls Sie sich in der Öffentlichkeit mit unserem Besuch zu rühmen gedenken. Aber wagen Sie nicht noch einmal, sich uns zu nähern.«

Damit segelte sie zur Tür hinaus, fröhlich verfolgt von uns dreien – unter dem verzweifelten Blick des armen Honoré. Nur Fyll schwebte unerreichbar und ungerührt in seinen himmlischen Höhen.

Auf dem Heimweg bekam Eva wieder Luft: »Diese verdammte Geige«, schnaufte sie. »Das war unsere erste und auch unsere letzte Reise, falls die Geige uns wieder begleiten soll.«

»Dann war es wohl eher die letzte Reise«, flüsterte mir Hermann zu. Er kannte den Freund.

Buch-Mockup
Im Paradies

Geschichte als PDF herunterladen

Herunterladen