Interviews

Jan Costin Wagner über "Einer von den Guten"

Portraitfoto des Autors Jan Costin Wagner vor einer weißen Bretterwand, rechts im Bild das Cover des Romans "Einer von den Guten"

Jan Costin Wagner legt mit Einer von den Guten einen grandiosen Roman vor.


Der gewagten Figurenkonstellation wegen löste es schon intern heiße Diskussionen aus. Im Gespräch erläutert Wagner, warum er das Buch für eines seiner Hauptwerke hält, wie er zu seinen Figuren gekommen ist, was den Roman zu einem Krimi macht und wie es ihm gelingt, aus einem schwierigen Thema Literatur zu machen, die nicht nur außergewöhnlich ist, sondern auch außergewöhnlich wichtig.

Jan Costin Wagner, für Ihren neuen Roman haben Sie nach einem Szenario gesucht, in dem die Hauptfigur mit dem schlimmstmöglichen Makel behaftet ist, den man sich denken kann. Worauf sind Sie gekommen und worauf wollten Sie damit hinaus?

Es ging mir schon immer darum, Menschen zu zeichnen, deren Leben auf der Kippe steht. In diesem Kontext hat vermutlich die Figur Ben Neven eher mich gefunden als ich ihn. Ein Polizist, Familienvater, glücklich verheiratet, der die sexuellen Dienste eines 13-jährigen Jungen in Anspruch nimmt. Ein nicht tragbarer Ermittler, ein unerträglicher Held. Eine Figur mit einer enormen Fallhöhe, mit der ich die Schere im Kopf öffnen möchte. Weil ich davon überzeugt bin, dass wir unbedingt dahin gehen müssen, wo es wehtut, um präventiv wirken und wichtige Diskurse führen zu können. 

Wie meistert man als Autor den enormen Drahtseilakt, einer dermaßen kontroversen, innerlich zerrissenen Figur in den Kopf zu schauen – und ihn eben nicht als das "Monster" darzustellen, das man reflexartig in ihm zu erkennen scheint?

Genau das war Voraussetzung für das Gelingen der Figurenzeichnung, so wie sie mir vorschwebte. Diesen Reflex, diesen naheliegenden Trugschluss – das tut kein Mensch, das tun nur Monster – wollte ich überwinden, indem ich das “Monster” zeichne, ohne den Menschen preiszugeben.

Im Buch lernen wir den minderjährigen Adrian kennen, der von seinem Vater zur Prostitution gezwungen wird - und dessen Freundschaft mit der gleichaltrigen Vera ein berührender Gegenpol zu der ansonsten erschütternden Situation des Jungen ist. Sie geben Adrian viel Raum und eine starke Stimme. Wie sind Sie zu dieser Figur gekommen?

Adrian ist ungeheuer wichtig, für die Geschichte, für mich. Er darf kein Schatten, kein Schemen, kein Opfer bleiben. Ich wollte ihm eine starke Stimme verleihen und ihn in den Mittelpunkt des Geschehens stellen. Auch als Gegenpart zu Ben Neven. Dieser Roman erzählt von Zerstörung und Erlösung gleichermaßen.

Beide Hauptfiguren des Buches, Ben Neven und Adrian, können allein ihrer Situation nicht entrinnen. Beide bekommen allerdings Figuren zur Seite gestellt, die eine Art Schlüssel zur möglichen Rettung sind. Freilich müssten sie über ihren Schatten springen und sich ihnen anvertrauen. Toleranz, Freundschaft, Vertrauen, aber auch Verrat sind prägende Themen des Buches. Was war Ihnen an dem Figurenpanorama wichtig?

Ja, das stimmt, die Helferinnen und Helfer haben eine Schlüsselrolle. Denn es geht mir im Kern um die Frage, ob ein Dialog gelingen kann. Erst der aufrichtige Dialog, in dem Unaussprechliches zur Sprache gebracht und perspektivisch betrachtet werden kann, birgt die Chance auf Lösung und Erlösung. Das gilt nicht nur für die Figuren im Roman, sondern letztlich für alle gesellschaftlichen Diskurse. Deshalb schwingt diese Frage immer mit: Gelingt Verständigung, auch dann noch, wenn alle Brücken zu brennen scheinen?

 

"Wenn ich dahin gehe, wo das Eis dünn ist, komme ich stärker zurück, spüre dann umso festeren Boden unter den Füßen. Weil mich die Sprachfindung und die Figuren eines Romans etwas begreifen lernen." Jan Costin Wagner

 

Sie haben in den drei Romanen um Ben Neven Themen verhandelt, mit denen sich viele Menschen am liebsten gar nicht auseinandersetzen möchten. Wie begegnen Sie Vorbehalten von Lesern, die das Buch aufgrund des Themas gar nicht erst lesen möchten? Und: Wie hat Ihr mutiger Ansatz, sich selbst so offensiv mit diesen Tabus zu konfrontieren, Ihren Blick darauf verändert?

Wenn jemand das Thema als zu massiv empfindet, verstehe ich das. Ich selbst erlebe es genau andersherum: Wenn ich dahin gehe, wo das Eis dünn ist, komme ich stärker zurück, spüre dann umso festeren Boden unter den Füßen. Weil mich die Sprachfindung und die Figuren eines Romans etwas begreifen lernen.

Einer von den Guten ist ein Buch, das einem den Atem verschlägt, düster, intensiv und mitunter verstörend; ein klassischer Genre-Krimi ist es aber nicht. Wieso sollten Krimifans den Roman unbedingt lesen?

Tatsächlich ist dies auch der Roman einer Ermittlung. Der Polizist Ben Neven ermittelt, sowohl konkret als auch im übertragenen Sinne, gegen sich selbst. Vielleicht hat man das so noch nie gelesen, das wäre doch ein guter Grund, sich das Buch näher anzusehen.

In den Nachrichten müssen wir immer wieder von Fällen lesen, die den Ereignissen in ihren Büchern verstörend ähnlich sind. Die gesellschaftliche Debatte zum Thema Pädophilie scheint jedoch aufgrund der massiven Tabuisierung des Themas festgefahren. Wie können wir uns aus Ihrer Sicht auf konstruktive Weise mit diesem eigentlich ungeheuerlichen Thema auseinandersetzen, was wünschen Sie sich für die Debatte?

Eigentlich weist in diesem Punkt der Roman in meinen Augen über sich hinaus. Hier ist es der pädophile Polizist, aber es geht mir darum, für gesellschaftlich relevante Tabuthemen grundsätzlich eine These in den Raum zu stellen – nämlich, dass wir uns diesen Themen stellen müssen, nachdenklich, differenzierend, ernsthaft. Weil nur dann der Diskurs gelingen und Früchte tragen kann.

Ohne zu viel zu verraten: Verlassen Sie als Autor Ihre Figuren mit dem Gefühl, ihnen jeweils ein gerechtes Ende bereitet zu haben?

Das konsequente Ende zu finden, ist mir sehr wichtig. Also das Ende, auf das in meinen Augen die Geschichte und die Figuren schlüssig zusteuern. Wenn das gelingt, mag ich das Ende, selbst wenn es erschütternd sein sollte. Welches Ende oder welche Enden der Roman findet, wird an dieser Stelle in der Tat nicht verraten.

Können Sie sich nach diesen drei ganz besonders intensiven Romanen bereits mit neuen Projekten beschäftigen oder wirken die Bücher um Ben Neven noch zu stark in Ihnen nach?

Es dauert erfahrungsgemäß immer eine ganze Weile, bis ich mich nach dem letzten Satz eines Buches wieder auf einen neuen ersten Satz einlassen kann. Aber ich bin inzwischen auch als Autor wieder hellhörig für den öffentlichen Diskurs. Sicher wird es auch im nächsten Buch wieder um grundlegende, neuralgische Fragen gehen und vor allem um uns Menschen.

 

Einer von den Guten

Ben Neven, leitender Kriminalermittler, glücklich verheiratet, Familienvater, von Kolleginnen und Kollegen hochgeschätzt, ist einer von den Guten. Niemand weiß von seinem Doppelleben, niemand weiß, dass Neven einmal wöchentlich einen Parkplatz weit von zu Hause ansteuert. Um dort Adrian zu treffen, einen minderjährigen Jungen.

Während der Sommer verblasst und der Herbst anbricht, verstrickt sich Neven immer tiefer und auswegloser im Dickicht seines ungeheuerlichen Doppellebens. Und Adrian lernt die gleichaltrige Vera kennen, die ihm ein ganz anderes Leben zeigt. Ein Leben, das er nicht kannte und das er vor seinem Vater, der ihn zur Prostitution zwingt, verbergen muss.

Sowohl Ben als auch Adrian müssen radikale Entscheidungen treffen, um die unhaltbare Situation zu ändern. Doch jeder Schritt ist ein Schritt am Abgrund. Wenn Neven sich jemandem anvertraut, steht seine Existenz auf dem Spiel. Und Adrian müsste sich von seinen Wurzeln und seinem alten Leben komplett lossagen. Werden sie einen Ausweg finden? Und wenn ja, um welchen Preis? 

Eine fein austarierte, hochmoralische Meditation über Menschen am Abgrund, die uns nach dem letzten Satz sprachlos und doch mit geschärftem Blick zurücklässt.

Gebundene Ausgabe 23,00 €
E-Book 19,99 €
  • Verlag: Galiani-Berlin
  • Erscheinungstermin: 17.08.2023
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 208 Seiten
  • ISBN: 978-3-86971-260-4
  • Autor*innen: Jan Costin Wagner

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