Interviews

Can Dündar im Gespräch über "Die rissige Brücke über den Bosporus"

Can Dündar Die rissige Brücke über den Bosporus Cover
© Esra Rotthoff

Can Dündars streitbarer Blick auf 100 Jahre dramatische Geschichte der Türkei

Can Dündar ist einer der besten Kenner der Türkei. Er arbeitete und berichtete über viele der Gründungsgestalten und tragenden Politiker des Landes, zahlreiche von ihnen, u.a Recep Tayyip Erdoğan, traf er persönlich. Als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet berichtete er über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Syrien und wurde daraufhin wegen Spionage zu über 27 Jahren Haft verurteilt. In der Türkei wird er als »Terrorist« gesucht, ein Mordanschlag wurde auf ihn verübt. Nach Jahren als »haymatloser« im Exil blickt er nun zurück auf die letzten 100 Jahre der Türkischen Republik, die am 29. Oktober 1924 als sich nach Europa öffnender, radikal laizistischer und moderner Staat gegründet wurde – und gerade zur konservativ-islamistischen Autokratie zu werden droht.

Im Interview spricht Can Dündar über sein neues Buch Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen, sein Leben im Exil in Berlin und die Gründe für Erdoğans Wahlerfolge. 

Can Dündar, für Ihr neues Buch Die rissige Brücke über den Bosporus blicken Sie zurück auf 100 Jahre Türkische Republik und wagen einen Ausblick auf die Zukunft des Landes unter Erdoğan. Warum ist dieses Buch jetzt so wichtig?

Vor 100 Jahren entstand die Türkei aus der Asche eines Reiches, das im Ersten Weltkrieg besiegt worden war. Unter diesen Bedingungen schufen Atatürk und ein Pionierkader mit radikalen Reformen eine neue, säkulare, moderne, westliche Republik. Doch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Republik nicht vollständig demokratisiert. Heute verwandelt sich die Republik in eine Autokratie in den Händen einer extremen nationalistisch-islamistischen Regierung. Ich wollte für westliche Leser zusammenfassen, wie die Türkei in diese Lage geraten ist. Ich hoffe, dass sie nach der Lektüre das Ringen dieser Gesellschaft um Demokratie besser verstehen und unseren Kampf gegen die Autokratie unterstützen werden.

Sie leben heute im Exil, nachdem Sie für Ihren Bericht über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Syrien zu über 27 Jahren Haft verurteilt wurden. In der Türkei werden Sie als „Terrorist“ gesucht. Warum bleiben Sie so hartnäckig an dem Thema Türkei, wenn das Land Sie so schlecht behandelt?

Es ist nicht die Türkei, die mich schlecht behandelt, es ist das Erdoğan-Regime und mein Land ist nicht gleich Erdoğan. Die Mehrheit der Menschen will dieses repressive Regime loswerden. Einige kämpfen dagegen an und setzen dafür ihr Leben aufs Spiel. Und ich versuche, auf meine Weise zu diesem Kampf zwischen Demokratie und Autokratie beizutragen.

Sie sind Europäischer Journalist des Jahres 2017 und ihre Zeitung Cumhuriyet wurde 2016 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. In Ihrem Buch beschreiben Sie mit viel Insiderwissen die dramatische Geschichte der Türkei. Wie sind Sie, trotz schwerster Voraussetzungen, bei der Recherche für dieses Buch vorgegangen?

Es gibt eine Geschichte über Picasso. Auf Anfrage malte er ein Bild in fünf Minuten. Seine Bewunderer fragten ihn: „Wie haben Sie das in 5 Minuten geschafft?" Er antwortete: „5 Minuten plus 40 Jahre". Ich habe dieses Buch in fünf Wochen fertiggestellt, aber wenn Sie mich ehrlich fragen, würde ich sagen „5 Wochen plus 40 Jahre". Ich arbeite seit 1979 als Journalist und habe viele der Ereignisse, die ich in diesem Buch beschreibe, aus erster Hand miterlebt und ich habe viele Ereignisse recherchiert, bei denen ich nicht Zeuge war. Seit 1993 habe ich viele Dokumentarfilme über die jüngste Geschichte der Türkei gedreht. Von dieser Erfahrung habe ich beim Schreiben in hohem Maße profitiert.

Ich hoffe, dass dieses Buch bei westlichen Lesern die Alarmglocken läuten lässt: Die Demokratie in der Türkei ist am Boden. Und wenn ihr nicht die Hand der Solidarität gereicht wird, wird sie sich unweigerlich bald in ein putineskes Regime verwandeln.

Am 29. Oktober feiert die Türkische Republik ihren 100. Jahrestag. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diesen historischen Tag?

„Ist das die Art und Weise, wie er gefeiert werden sollte?", ist der erste Satz, der mir in den Sinn kommt. Das Abenteuer der Modernisierung geht in sein hundertstes Jahr, mit einem extrem nationalistisch-islamistischen Regime auf dem Weg zur Autokratie. Schlimmer noch, es stehen Jahre der weiteren Verhärtung dieses Regimes bevor. Ich hoffe, dass dieses Buch bei westlichen Lesern die Alarmglocken läuten lässt: Die Demokratie in der Türkei ist am Boden. Und wenn ihr nicht die Hand der Solidarität gereicht wird, wird sie sich unweigerlich bald in ein putineskes Regime verwandeln.

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich auch mit der Frage, wie Erdoğan stets wiedergewählt werden konnte, wie zuletzt bei der Schicksalswahl im Mai, und welche Rolle der Westen dabei spielt. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für Erdoğans Wahlerfolge?

Stellen Sie sich vor, Sie regieren ein Land: Sie haben alle Macht in Ihren Händen: Sie haben alle Hebel in der Hand. Sie haben die Mehrheit im Parlament. Sie haben die Justiz, die unabhängig sein sollte, vollständig übernommen. Sie kontrollieren die Medien. Sie haben die stellvertretenden Vorsitzenden und Abgeordneten der drittgrößten Partei im Parlament inhaftiert. Sie haben einige der gewählten Bürgermeister entlassen und durch Ihre eigenen Leute ersetzt. Sie haben Ihren stärksten Konkurrenten unter Androhung der Verhaftung entmachtet und die Flüchtlingskarte genutzt, um zu verhindern, dass die westliche Welt sie kritisieren kann. Armeegeneräle, Polizeichefs, Bürokraten und Gouverneure arbeiten wie Angestellte der Partei. Sie haben führende Vertreter der Zivilgesellschaft inhaftiert und einige von ihnen mit der Androhung von Gefängnis zum Schweigen gebracht. Sie haben ein System zur Stimmenauszählung eingerichtet, mit dem Sie in die Wahlergebnisse eingreifen können. Glauben Sie, dass irgendeine politische Kraft Sie an der Wahlurne schlagen kann? Das ist so, als würde man eine Mannschaft ohne Spieler in einem Spiel schlagen, bei dem man den Schiedsrichter gekauft und den Torwart an den Pfosten gefesselt hat.

Sie beobachten die Lage der Türkei, wie auch viele andere haymatlose, im Exil in Berlin. Über das Recherchezentrum Correctiv sind Sie mit vielen anderen Exilanten aus aller Welt vernetzt. Wie wichtig ist diese globale Vernetzung für Ihre Arbeit?

Erdoğan, Putin, Trump, Lukaschenko, Orban – die Autokraten der Welt lernen voneinander, unterstützen sich gegenseitig, arbeiten zusammen. Auch wir, die wir ihrer Unterdrückung ausgesetzt sind, müssen uns zusammenschließen, gemeinsam Widerstand leisten und von den Erfahrungen der anderen profitieren. Wir stehen vor einem globalen Angriff auf unsere Rechte und Freiheiten, und wir können ihn nur mit globaler Solidarität abwehren. Deshalb ist das Netzwerk, das die Exilanten untereinander aufbauen werden, von großem Wert!

Die rissige Brücke über den Bosporus

Can Dündar, in der Türkei als »Terrorist« gesucht und in Abwesenheit zu über 27 Jahren Haft verurteilt, erzählt mit präzisem Blick auf die letzten Jahrzehnte und die Ereignisse um die Schicksalswahl im Mai 2023 vom hundertjährigen Ringen der Türkischen Republik um eine freie Gesellschaft. Kaum ein Jahr ist für diesen wichtigen Partner Europas so existenziell wie dieses!

100 Jahre ist es her, da zerfiel das marode Osmanische Reich und die Türkische Republik wurde gegründet. Diese wollte ein radikal moderner Staat werden: mit Übernahme europäischer Rechtssysteme, europäischem Kalender, lateinischer Schrift, freien Wahlen, Gleichstellung der Geschlechter, Gewaltenteilung und und und – ein Programm, moderner und säkularer als fast überall sonst auf der Welt. Die Brücke nach Europa wurde geschlagen, und die Anstifter dieser Entwicklung waren nicht etwa fortschrittliche Parteien, sondern das Militär. 1952 wurde die Türkei Teil der Nato, aber ausgerechnet die Einführung eines Mehrparteiensystems gab den islamistisch-konservativen Kräften Auftrieb, zwischenzeitlich gab es Putsche, Parteienverbote, Kriegsrecht. 

Als Erdoğan 2013 Ministerpräsident wurde, wollte er das Land zwar in die EU führen, aber nachdem seine Partei mächtig geworden war, nahm der Staat unter ihm immer autokratischere Züge an. Die Opposition wurde in die Enge getrieben, jedes kritische Denken abgestraft. Erdoğans Regierung intensivierte die Unterdrückung der Kurden, führte Krieg in Syrien und im Irak. Sie änderte die Verfassung, nahm Wirtschaft und Justiz an die Leine, ließ Kritiker und Oppositionsparteien verbieten. Niemand ist vor Verhaftung gefeit, die Vorwände können noch so bizarr sein. Vor und nach der Wahl ist das Land zerrissen wie nie zuvor. 

Can Dündar erzählt davon, und von einem Jahrhundert dramatischer Ereignisse und des Ringens. Und er gibt einen Ausblick, wie es mit dem Land weitergehen könnte.

Gebundene Ausgabe 23,00 €
E-Book 19,99 €
  • Verlag: Galiani-Berlin
  • Erscheinungstermin: 05.10.2023
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 240 Seiten
  • ISBN: 978-3-86971-290-1
  • Autor*innen: Can Dündar
  • Übersetzt von: Sabine Adatepe