"Als ich mit dem Rad einen Unfall erlitt, bei dem ich mir schwere Frakturen zuzog, besuchte sie mich Tag um Tag im Spital und pflegte mich auch in den Wochen nach meiner Entlassung. Fanny schob mich im Rollstuhl vom Donaukanal bis zum Augarten mit seiner Flakturmanlage (kurz vor Ende des Krieges errichteten Hochbunkern, die nicht sprengbar waren, oder der halbe Bezirk flog mit), Alleen, die Kastanien und Ahorn beschatteten, Holunder und Goldregentrauben. Gleich um die Ecke war Fanny als junges Ding mit der Familie zu Hause gewesen, in einem Haus aus dem vorvorvergangenen Jahrhundert, das sie mir zeigte, als wir auf dem Heimweg waren, Gesimse und Friese, Voluten und Blattwerk, alles mit einem Stich ins Vergammelte."
Jan Koneffke wohnt in Wien im selben Haus, in dem Joseph Roth lebte, als er als junger Mann zum Studium in die Stadt kam. Als Koneffke per Zufall von dem weltberühmten ehemaligen Hausbewohner erfährt, entsteht die Idee zu einem neuen Roman ...
Im Schatten zweier Sommer, eine tragische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte Europas und eine literarische Hommage an Roth am Anfang und am Ende seiner Karriere, erscheint am 8. Februar 2024.
Bis dahin berichtet Koneffke auf dieser Seite von der Entstehungsgeschichte des Romans, zeigt Fotos und liest einige Passagen aus dem Buch vor.
Es wird Frühling in Wien, und bei der jüdischen Familie des Schuhmachers Fischler wird ein Zimmer zur Untermiete frei. Der neue Mieter ist ein schüchterner, etwas verquerer Student aus Galizien. Sein Name: Joseph Roth. Bald lernen Fanny, die ältere Tochter der Familie, und er sich kennen, und für die beiden beginnt ein heimlicher verliebter Sommer. Der allerdings endet in einer Trennung – und in geschichtlicher Dimension in einer Menschheitskatastrophe: Der Erste Weltkrieg bricht aus.
Lange Jahre werden die beiden sich nicht wiedersehen – bis es Fanny nach abenteuerlicher Flucht aus Wien 1938 nach Paris verschlägt, wo sie zufällig im Deutschen Hilfskomitee ihren ersten Sommerschwarm wiedertrifft. Roth ist inzwischen berühmter Schriftsteller geworden, befindet sich ebenfalls im Exil. Gerade hat seine letzte Geliebte, die Schriftstellerin Irmgard Keun, vor seinen Eifersuchtsanfällen die Flucht ergriffen; der so cholerische wie charismatische Roth hält in seinem Kreis Hof wie ein Fürst, obwohl er selbst keinen Pfennig mehr besitzt. Fanny wird ihn, der mit sich und der Welt zerstritten ist, bis kurz vor seinem Tod begleiten.
Im Schatten zweier Sommer ist ein literarisches Kunststück: Mithilfe der völlig authentisch wirkenden, aber erfundenen Fanny gelingt es Koneffke, die biografischen Lücken in Roths jungen Jahren zu füllen, um so dessen Wesen und Werk von den Anfängen bis zum tragischen Ende im Exil vielschichtig zu bespiegeln – und zudem die Geschichte der (auch sprachlichen) Selbstfindung und Emanzipation einer höchst ungewöhnlichen Frau zu schildern.